morgen beginnen die Vorbereitungen zum alljährlichen Herbstfest hier in Shoreline, und ich bin mir sicher, dass sich da ein Betätigungsfeld für euch finden lässt.«
»Was für eine Schei…« Shelby unterbrach sich, weil sie Francescas Blick spürte. »Ich wollte sagen, Erntedankfest klingt super!«
»Und was ist mit Luce?«, fragte Miles.
Steven hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine haselnussbraunen Augen blickten über den Rand seiner Hornbrille Luce streng an. »Du hast Zimmerarrest, Luce.«
Zimmerarrest? War’s das?
»Unterricht. Speisesaal. Wohnheim«, verkündete Francesca. »Bis du von uns etwas anderes gesagt bekommst, und bis auf wenige Ausnahmen, wo du dich unter unserer Aufsicht auch anderswo aufhalten darfst, sind das die einzigen Orte, die dir erlaubt sind. Und keine weiteren Abenteuerreisen mit den Verkündern. Verstanden?«
Luce nickte.
»Stell uns nicht noch mal so auf die Probe«, fügte Steven hinzu. »Selbst unsere Geduld kennt Grenzen.«
Mit »Unterricht-Speisesaal-Wohnheim« hatte Luce am Sonntagvormittag wenig Wahlmöglichkeiten. Die Nephilim-Lodge war dunkel und leer und der Speisesaal öffnete erst ab elf zum Sonntagsbrunch. Nachdem Miles und Shelby mürrisch zu Mr Kramers Gemeinschaftsdienstbüro davongeschlurft waren, blieb Luce nichts anderes übrig, als in ihr Zimmer zu gehen. Sie schloss das Fenster, das Shelby immer gerne offen ließ, und sank dann auf ihren Schreibtischstuhl.
Es hätte schlimmer sein können. Verglichen mit den Geschichten über enge Einzelzellen in Sword & Cross, in die alle gesteckt wurden, die wichtige Regeln missachtet hatten, hatte Luce das Gefühl, noch mal ziemlich glimpflich davongekommen zu sein. Keiner legte ihr eine elektronische Armfessel um. Was von Steven und Francesca als Strafe über sie verhängt worden war, unterschied sich eigentlich kaum von Daniels Anweisungen. Nur dass ihre Lehrer hier tatsächlich Tag und Nacht überwachten, ob sie sich auch daran hielt, während Daniel eigentlich gar nicht in Shoreline hätte aufkreuzen dürfen.
Irgendwie hatte Luce von allem die Nase ziemlich voll. Sie schaltete ihren Computer ein, bereits darauf gefasst, dass ihr der Internetzugang auf einmal auch erschwert sein würde. Aber sie loggte sich ein wie immer und fand drei E-Mails von ihren Eltern in ihrem Postfach vor und eine von Callie. Vielleicht hatte der Zimmerarrest ja auch sein Gutes – so war sie endlich gezwungen, etwas häufiger mit ihren Eltern und ihrer Freundin in Kontakt zu treten.
An:
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[email protected] Gesendet: Freitag, 20.11., 8.22 Uhr
Thema: Truthahn-Hund
Dieses Foto musst du dir anschauen! Wir hatten Andrew für die Herbstparty mit all unsern Nachbarn als Truthahn verkleidet. Wie du an den von den Bissen zerrupften Federn sehen kannst, war er begeistert. Was meinst du? Sollen wir ihn damit noch einmal beglücken, wenn du an Thanksgiving nach Hause kommst?
An:
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[email protected] Gesendet: Freitag, 20.11., 9.06 Uhr
Thema: PS
Dein Vater hat meine E-Mail an dich gelesen und meint, dass du jetzt vielleicht ein Schuldgefühl hast. Ich will nicht, dass du dich schlecht fühlst, Liebling. Wenn du zu Thanksgiving nach Hause kommen kannst, würden wir uns freuen. Wenn nicht, dann klappst es eben ein anderes Mal. Wir lieben dich.
An:
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[email protected] Gesendet: Samstag, 21.11., 12.12 Uhr
Thema: kein Thema
Lass uns einfach wissen, wie’s steht! Küsschen, Mom
Luce stützte das Kinn in die Hand. Sie hatte sich getäuscht. Ihre Verbannung aufs Zimmer machte es keinen Deut einfacher, auf die E-Mails ihrer Eltern zu antworten. Sie hatten zu Hause sogar den Pudel als Truthahn verkleidet! Es brach ihr das Herz, wenn sie daran dachte, dass sie sie wahrscheinlich enttäuschen musste. Deshalb schrieb sie nicht gleich zurück, sondern öffnete erst einmal Callies E-Mail.
An:
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[email protected] Gesendet: Freitag, 20.11., 16.14 Uhr
Thema: ES IST SO WEIT!
Wie du siehst, hab ich den Flug schon gebucht. Du musst mir nur noch deine Adresse schicken, ich nehm dann am Donnerstagvormittag ein Taxi. Ich war noch nie in Georgia! Und ich seh dich nach so langer Zeit endlich wieder, meine beste Freundin! Es wird ganz superklassetoll werden! Bis in SECHS TAGEN!
Nicht mal mehr eine Woche, dann würde Luces beste Freundin bei Luces Eltern aufkreuzen, um dort Thanksgiving zu feiern, Luces Eltern würden sie sehnlichst