Engelsmorgen
dann auf etwas, das sie nicht erwartet hätte.
Jemanden.
Daniel, ganz in Schwarz, der im Kamin gerade Feuer schürte.
»Hilfe!«, rief Shelby, wich zurück und stolperte in Miles’ Arme. »Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt! Und dann auch noch in meinem eigenen Zimmer. Find ich nicht so toll, Daniel.« Sie warf Luce einen empörten Blick zu, als hätte die was mit seinem Auftauchen zu tun.
Daniel beachtete Shelby nicht weiter und begrüßte Luce mit den Worten: »Gut, dass du wieder da bist!«
Luce wusste nicht, ob sie sich ihm in die Arme werfen oder in Tränen ausbrechen sollte. »Daniel …«
»Daniel?«, rief Arriane entsetzt und riss die Augen auf, als hätte sie ein Gespenst gesehen.
Daniel erstarrte; genauso wenig hatte er erwartet, hier Arriane zu begegnen. »Ich – ich muss nur einen Augenblick mit ihr reden. Dann verschwind ich auch schon wieder.« Er klang schuldbewusst, fast eingeschüchtert.
»Na gut«, sagte Arriane und packte Miles und Shelby an den Schultern. »Wir wollten sowieso gerade gehen. Keiner von uns hat dich gesehen.« Sie schob die anderen beiden vor sich her. »Bis später, Luce.«
Shelby wirkte, als könnte sie gar nicht schnell genug aus dem Zimmer kommen. Miles blickte trotzig und wütend drein und konnte seine Augen nicht von Luce lösen. Arriane musste ihn fast mit Gewalt in den Gang hinausschubsen. Dann knallte sie die Tür hinter ihnen zu.
Daniel näherte sich Luce. Sie schloss die Augen und ließ sich von seiner Nähe innerlich durchströmen, bis ihr wärmer wurde. Sie atmete ihn ein, sie war glücklich, nach Hause gekommen zu sein. Nicht nach Shoreline, sondern in das Zuhause, das Daniel für sie war. Immer wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich zu Hause. Selbst an den fremdesten Orten. Selbst wenn ihre Beziehung ein totales Chaos war.
Wie das jetzt der Fall zu sein schien.
Er gab ihr keinen Kuss, er nahm sie noch nicht einmal in seine Arme. Luce war erstaunt, wie sehr sie sich das wünschte, selbst nach all dem, was sie gesehen hatte. Sie sehnte sich so nach seiner Berührung, dass sie in ihrer Brust einen tiefen Schmerz verspürte. Als sie die Augen wieder aufschlug, stand er immer noch vor ihr, kaum eine Handbreit entfernt, und musterte sie mit seinen violetten Augen, nahm jeden Millimeter ihres Körpers in sich auf.
»Du hast mir Angst eingejagt.«
Sie hatte ihn das noch nie sagen hören. Sie war normalerweise diejenige, die Angst hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Luce schüttelte den Kopf. Daniel sagte nichts, nahm sie an der Hand und führte sie ans Fenster, vom Zimmer und dem warmen Platz am Feuer wieder hinaus in die kalte Nacht, auf den Mauersims unterhalb des Fensters, wo sie schon einmal gestanden hatte, als er zu ihr gekommen war.
Der Mond stand als schmale Sichel tief am Himmel. Die Eulen in den Mammutbäumen schliefen. Luce konnte hören, wie dahinter die Wellen sanft an den Strand schlugen. Auf der anderen Seite des Schulgeländes leuchtete ein einzelnes Licht durch die Nacht, aus einem der Büros in der Nephilim-Lodge. Aber sie hätte nicht sagen können, ob es das Zimmer von Francesca oder von Steven war.
Daniel und sie saßen auf dem schmalen Sims und ließen die Beine baumeln. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die leichte Dachschräge und schaute zu den Sternen hoch, die trüb am Himmel leuchteten, wie hinter einem dünnen Wolkenschleier. Nach einer Weile begann Luce zu weinen.
Weil er wütend auf sie war oder sie wütend auf ihn. Weil sie einfach erschöpft war von dem vielen Hin und Her, dem Durchschreiten der Verkünder, in die eine Richtung und dann in die andere, dem Ortswechsel, der Reise in die jüngste Vergangenheit und dann wieder hierher zurück. Weil ihr Kopf und ihr Herz verwirrt waren und weil es das alles nur noch komplizierter machte, jetzt so nahe bei Daniel zu sein. Weil Miles und Shelby ihn zu hassen schienen. Weil in Veras Gesicht der reinste Horror gestanden hatte, als sie Luce erkannte. Weil ihre Schwester nach ihrem Tod so viele Tränen vergossen haben musste und weil Luce durch ihren Besuch im Casino in ihr alles noch einmal aufgerührt hatte. Weil es so viele andere Familien gegeben hatte, die in unendliche Trauer versunken waren, da ihre Töchter unglücklicherweise die Wiedergeburt eines dummen, verliebten Mädchens sein mussten. Weil der Gedanke an alle diese Familien sie ihre Eltern in Thunderbolt vermissen ließ. Weil sie an Dawns Entführung schuld gewesen war. Weil sie siebzehn war und
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