Engelsmorgen
meinte.
»Genau.« Shelby nickte und sah dann Luce fragend an. »Aber woher …«
In diesem Augenblick kamen Francesca und Steven zur Tür herein. Francesca setzte sich auf den schwarzen Drehstuhl hinter ihrem Schreibtisch. Steven stellte sich hinter sie, die Hände legte er auf die Rückenlehne ihres Stuhls. In seiner Jeans und dem frisch gebügelten weißen Hemd wirkte er ungezwungen, beinahe heiter, Francesca dagegen, in ihrem schwarzen Etuikleid mit dem rechteckigen Halsausschnitt, ernst und streng.
Luce musste daran denken, was Shelby über die nicht so klaren Trennlinien und die Bedeutung der Wörter Engel und Dämon gesagt hatte. Natürlich war es oberflächlich, allein anhand der Kleidung von Steven oder Francesca ein Urteil fällen zu wollen, aber das war es ja nicht nur. In vielerlei Hinsicht konnte man leicht vergessen, wer von ihnen beiden eigentlich auf welcher Seite stand.
»Wer von euch will anfangen?«, fragte Francesca, die sorgfältig manikürten Hände vor sich auf der Tischplatte verschränkt. »Wir wissen, was passiert ist. Es ist also zwecklos, irgendetwas abzustreiten. Wir geben euch jetzt die Chance, uns zu erklären, warum ihr es getan habt.«
Luce holte tief Luft. Sie war zwar nicht darauf vorbereitet, dass Francesca ihnen so bald das Wort erteilen würde, aber sie wollte nicht, dass Miles oder Shelby ihr zuvorkamen und etwa die Schuld auf sich nahmen. »Es war allein meine Schuld«, sagte sie. »Ich wollte …« Sie blickte in Stevens Gesicht, dann in ihren Schoß. »Ich hatte in den Verkündern Momentaufnahmen aus meiner Vergangenheit gesehen, aus früheren Leben von mir, und ich wollte mehr erfahren.«
»Und deshalb hast du dich auf diesen gefährlichen Ausflug begeben – das unerlaubte Durchschreiten eines Verkünders –, hast dabei auch noch zwei deiner Klassenkameraden in Gefahr gebracht, die es wirklich hätten besser wissen müssen, und das alles auch noch am Tag, nachdem eine eurer Mitschülerinnen gekidnappt worden war?«
»Das ist nicht fair«, sagte Luce. »Schließlich haben Sie die ganze Sache mit Dawn runtergespielt. Und wir wollten uns zuerst auch nur mit dem Schatten etwas ablenken und ein paar Bilder anschauen, ohne …«
»Ohne was …?«, mischte Steven sich ein. »Begreifst du wenigstens jetzt, wie unverantwortlich und hochgradig dumm euer ganzes Verhalten war?«
Luce klammerte sich an den Armlehnen ihres Stuhls fest. Sie kämpfte mit den Tränen. Francesca schien auf sie alle drei wütend zu sein, aber Stevens Zorn schien sich allein gegen Luce zu richten. Das war nicht fair.
»Na gut, okay, wir haben uns unerlaubt vom Schulgelände entfernt, um einen Trip nach Las Vegas zu unternehmen«, sagte sie schließlich. »Aber wir sind nur deswegen in diese gefährliche Situation geraten, weil Sie mich nicht aufgeklärt hatten. Sie wussten, dass jemand hinter mir her war, und Sie wissen wahrscheinlich auch, warum. Ich hätte das Schulgelände nie verlassen, wenn Sie mich gewarnt hätten.«
Steven schaute Luce mit loderndem Blick an. »Wenn du mir jetzt im Ernst erzählen willst, dass wir dir das alles ausdrücklich hätten sagen müssen, Luce, dann bin ich wirklich von dir enttäuscht.« Er legte eine Hand auf Francescas Schulter. »Vielleicht hast du doch recht, Liebling.«
»Moment mal …«, rief Luce.
Aber Francesca machte ein Zeichen, dass sie schweigen sollte. »Müssen wir auch jetzt überdeutlich werden? Ist dir überhaupt nicht klar, welche Chance dir hier in Shoreline für deine Bildung und persönliche Entwicklung geboten worden ist? Eine Chance, wie sie sich nur einmal in tausend Leben bietet?« Luce errötete. »Du hast uns in eine sehr schwierige Situation gebracht. Im Internat für die normalsterblichen Schüler …«, Francesca deutete zum Hauptgebäude der Schule hinüber, »… gibt es Arresträume und ein Gemeinschaftsdienstprogramm für die Schüler, die ernste Regelverletzungen begehen. Aber Steven und ich haben kein Strafsystem. Wir waren bisher immer in der glücklichen Lage, nur Schüler zu haben, die unsere sehr großzügigen Regeln respektieren.«
»Bis jetzt«, sagte Steven. »Francesca und ich stimmen überein, dass eine schnelle und strenge Bestrafung erfolgen muss.«
Luce beugte sich in ihrem Stuhl nach vorne. »Aber Shelby und Miles haben nichts …«
»Ganz genau.« Francesca nickte. »Deshalb werden Shelby und Miles, sobald wir hier fertig sind, sich auch bei Mr Kramer im Hauptgebäude für den Gemeinschaftsdienst melden. Ab
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