Engelsmorgen
damit beschäftigt, die …«
»Die Outcasts?«
»Ja, sie waren es. Sie haben deine Freundin entführt. Sie können kaum rechts und links unterscheiden, und sie wissen auch nicht, auf wessen Seite sie eigentlich stehen.«
Luce erinnerte sich an das Mädchen, das Cam mit dem Silberpfeil erschossen hatte, an den Jungen im Trenchcoat mit dem leeren Blick im Diner. »Sie sind fast ganz blind.«
Daniel starrte auf seine Hände, rieb nervös die Finger gegeneinander. Er wirkte, als würde ihm gleich schlecht werden. »Blind, aber brutal.« Dann langte er mit einer Hand in ihre Haare und wickelte sich eine ihrer blonden Locken um den Finger. »Es war klug von dir, dir die Haare zu färben. Das hat sie noch stärker geblendet. Dadurch warst du in Sicherheit, als ich nicht schnell genug bei dir sein konnte.«
»Klug von mir?«, fragte Luce entsetzt. »Dawn hätte sterben können, weil ich meine Finger nicht von der Flasche billigem Haarfärbemittel lassen konnte. Hat das was mit Klugheit zu tun? Und wenn ich … wenn ich mir die Haare morgen wieder schwarz färben würde, hieße das, dass die Outcasts mich plötzlich finden könnten?«
Daniel schüttelte betrübt den Kopf. »Sie hätten überhaupt nicht auf das Schulgelände kommen dürfen. Sie hätten keinen von euch erwischen dürfen. Ich arbeite Tag und Nacht, um sie von euch fernzuhalten – von der ganzen Schule. Jemand hilft ihnen, und ich weiß nicht, wer …«
»Cam.« Warum sonst hatte er sich in der Nähe der Schule herumgetrieben?
Aber Daniel schüttelte erneut den Kopf. »Wer auch immer es ist, er wird es noch sehr bedauern.«
Luce verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Gesicht war vom Weinen immer noch rot. »Ich nehm mal stark an, das bedeutet, dass ich Thanksgiving nicht nach Hause kann, oder?« Sie schloss kurz die Augen, versuchte, die enttäuschten Gesichter ihrer Eltern auszublenden. »Sag jetzt nichts.«
»Bitte, Luce.« Daniels Stimme war sehr, sehr ernst. »Nur noch für eine kleine Weile.«
Sie nickte. »Ich weiß. Für die Dauer des Waffenstillstands.«
»Was?« Seine Hände packten ihre Schultern. »Woher weißt du, dass …«
»Weiß ich eben.« Luce hoffte, dass er nicht spürte, wie ihr Körper zu zittern begann. Und je mehr sie sich bemühte, selbstsicher aufzutreten, desto stärker zitterte sie. »Und ich weiß, dass du in nicht ferner Zeit das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle auf die eine oder die andere Seite zum Kippen bringen wirst.«
»Wer hat dir das erzählt?« Daniel richtete sich im Sitzen auf und bog die Schultern zurück; auf diese Weise versuchte er, seine Flügel am Entfalten zu hindern, das wusste sie inzwischen ebenfalls.
»Hab ich herausgefunden. Wenn du nicht da bist, passiert so einiges hier.«
In Daniels Augen flackerte eine Spur von Eifersucht auf. Luce stellte das fast mit Befriedigung fest. Sie schaffte es also, ihn zu provozieren. Aber eigentlich wollte sie ihn gar nicht eifersüchtig machen. Vor allem nicht jetzt, wo er so viel Wichtigeres zu tun hatte.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich will dich nicht auch noch belasten. Womit du da gerade zu tun hast … also, das scheint ja wirklich eine riesengroße Sache zu sein.«
Sie hoffte natürlich, dass Daniel ihr genug vertraute, um ihr jetzt mehr darüber zu erzählen. Es war das offenste, ehrlichste und reifste Gespräch, das sie bisher miteinander geführt hatten. Vielleicht jemals.
Aber dann, viel zu früh, legte sich ein Schatten über Daniels Gesicht. Sie hatte die Wolke am Himmel gar nicht bemerkt. »Vergiss das alles. Du weißt nicht, was du zu wissen glaubst.«
Tiefe Enttäuschung durchströmte Luces Körper. Er behandelte sie immer noch wie ein Kind. Ein Schritt vorwärts, zehn Schritte zurück.
Luce setzte die Füße auf den Sims und stand auf, sodass sie auf ihn herabblickte.
»Aber eine Sache weiß ich, Daniel«, sagte sie. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, dann bräuchte ich nicht lange zu überlegen. Wenn das ganze Universum darauf warten würde, in welche Waagschale ich mein Gewicht werfe, dann würde ich mich auf die Seite des Guten schlagen.«
Daniel starrte hinaus in die Dunkelheit, auf den finsteren Wald.
»Dann würdest du dich auf die Seite des Guten schlagen«, wiederholte er. Seine Stimme klang dumpf und unendlich traurig. Trauriger, als sie jemals zuvor geklungen hatte.
Luce musste dagegen ankämpfen, sich zu ihm niederzubeugen und sich bei ihm zu entschuldigen. Stattdessen wandte sie sich von ihm ab und kehrte ins
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