Engelsmorgen
in der Luft schwebte.
»Ist das nicht etwas riskant?«, fragte sie. »Einen Verkünder herbeizurufen, obwohl es noch nicht mal eine Stunde her ist, dass sie dich genau dafür aufs Zimmer verbannt haben? Du kümmerst dich auch echt überhaupt nicht darum, was man dir sagt, oder? Das bewunder ich ja schon wieder.«
»Ich hab ihn nicht herbeigerufen«, entgegnete Luce, während sie aufstand und sich die Federn von der Kleidung zupfte. »Ich bin auf ihn draufgetreten. Er muss hier im Zimmer auf mich gewartet haben.« Vorsichtig näherte sie sich ihm, um den leicht unscharfen graubraunen Schatten zu inspizieren. Er war flach und dünn wie ein Blatt Papier, nicht groß für einen Verkünder. Aber es machte Luce nervös, wie er da vor ihrem Gesicht hing und beinahe herausforderte, dass sie ihn zurückwies.
Er schien gar nicht mehr in Form gezogen werden zu müssen. Er schwebte einfach vor ihr, als ob er schon die ganze Zeit nichts anderes getan hätte.
»Moment mal«, murmelte Luce. »Der kam doch vorgestern zusammen mit dem anderen herein. Erinnerst du dich, Shelby?«
Es war der seltsame braune Schatten, der im Doppelpack mit dem schwarzen am Freitagnachmittag durchs Fenster gekommen war. Dann war er verschwunden und Luce hatte ihn völlig vergessen.
»Na und?«, fragte Shelby, gegen die Leiter des Etagenbetts gelehnt. »Willst du dir nun anschauen, was er dir zu bieten hat, oder nicht?«
Der Verkünder hatte die Farbe von einem verräucherten Zimmer, ein ungesundes, giftiges Braun, und fühlte sich wie feuchtkalter Nebel an. Luce fuhr mit den Fingern die Ränder entlang. Sie spürte, wie ihr eine feuchte, salzige Brise entgegenwehte. Sie glaubte, Seeluft zu schmecken. Möwenschreie ertönten.
Sie sollte besser nicht hineinschauen. Nein, sie würde es nicht tun.
Aber der Verkünder verwandelte sich ganz von selbst, aus dem verwaschenen Braun wurde ohne Luces Zutun ein klares und deutliches Bild. Die Botschaft, die der Schatten enthielt, drängte von selbst ans Licht.
Die Luftaufnahme einer Insel. Zuerst von weit oben, sodass Luce nicht viel mehr erkennen konnte als eine Erhebung aus schwarzem Fels, die am Rand von Kiefern umstanden war. Dann zoomte der Verkünder allmählich stärker darauf zu, wie ein Vogel, der nach unten stößt, um sich auf einem Baumwipfel niederzulassen. Ein kleiner, verlassener Strand rückte näher.
Der Strand war schlammig und das Wasser durch den feinen Sand trüb. Verstreute Felsbrocken warteten auf die Rückkehr der Flut. Und zwischen den beiden größten Felsen stand, zuerst gar nicht ins Auge fallend – Daniel. Er schaute aufs Wasser hinaus. Der Stock in seiner Hand war voller Blut.
Luce entfuhr ein Aufschrei, als sie sich vorbeugte und sah, worauf Daniel den Blick gerichtet hielt. Nicht aufs Wasser, sondern auf ein blutverschmiertes Bündel. Einen Mann. Einen toten Mann, der reglos im Sand lag. Jedes Mal wenn die Wellen den Körper erreichten, schwemmten sie dunkelrotes Blut mit sich fort. Doch Luce konnte die tödliche Wunde nicht sehen. Eine andere Person, in einem langen schwarzen Trenchcoat, kauerte vor der Leiche und verschnürte sie mit einem dicken Seil.
Mit klopfendem Herzen schaute Luce wieder zu Daniel. Seine Miene war ausdruckslos, aber seine Schultern zuckten.
»Beeil dich. Die Zeit verrinnt. Ebbe ist gleich vorbei.«
Seine Stimme war so kalt, dass Luce davon fror.
Eine Sekunde später verschwand die Szene. Luce hielt immer noch den Atem an. Der Verkünder brach in Stücke auseinander, die dann als kleiner Haufen auf dem Boden lagen. Auf einmal öffnete sich klappernd das Fenster, das Luce erst vor Kurzem geschlossen hatte. Luce und Shelby warfen sich einen erschrockenen Blick zu, ein Windstoß erfasste den Verkünder, hob ihn in die Luft und wehte ihn zum Fenster hinaus.
Luce packte Shelbys Handgelenk. »Du siehst doch immer alles. Sag, wer war das da mit Daniel? Wer kauerte über dem Leichnam?« Ein Schauder durchfuhr Luce.
»Keine Ahnung, Luce. Ich war irgendwie durch die Leiche abgelenkt. Und auch durch den blutigen Stock, den dein Freund da in der Hand hielt.« Shelbys sarkastischer Tonfall wurde durch den Schrecken, der ihr ins Gesicht geschrieben stand, aufgehoben. »Er hat ihn getötet?«, fragte sie Luce. »Wer auch immer das war, aber Daniel hat ihn getötet?«
»Weiß ich nicht.« Luce war zusammengezuckt. »Sag das nicht so. Vielleicht gibt es dafür ja eine Erklärung …«
»Was, glaubst du, hat er am Schluss da gesagt?«, fragte Shelby. »Ich
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