Engelsmorgen
fürchterlich schlimm zu finden, die Tische abzuräumen. Er war voll in seinem Element, grinste und machte mit allen seine Späße, während sich die Tische leerten.
Als Luce auf ihn zukam, stellte er die schmutzigen Teller ab und breitete die Arme aus. Er umarmte sie etwas zu fest, fand sie.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er mit zur Seite geneigtem Kopf, sodass ihm seine braunen Haare über die Augen fielen. Er schien nicht daran gewöhnt zu sein, weil er sonst ja immer seine Kappe trug, und schob sie hastig zurück. »Du wirkst etwas mitgenommen. Also, ich meine, du schaust natürlich großartig aus, das wollte ich damit nicht sagen. Wollte ich damit überhaupt nicht sagen. Mir gefällt dein Kleid sehr. Und ich mag auch, was du mit deinen Haaren gemacht hast. Aber irgendwie wirkst du …«, er runzelte die Stirn, »… na ja, etwas mitgenommen.«
»Mhmm«, machte Luce und trat mit der Spitze ihrer hochhackigen Pumps gegen einen Stuhl. »Eigentlich seltsam. Weil ich mich nämlich den ganzen Abend nicht so wohlgefühlt habe wie gerade jetzt.«
»Wirklich?« Miles’ Gesicht leuchtete auf. Dann blickte er wieder besorgt drein. »Muss sich beschissen anfühlen, unter Arrest gestellt worden zu sein. Wenn du mich fragst, ich finde, Frankie und Steven übertreiben da ein bisschen. Dich den ganzen Abend nicht aus den Augen zu lassen …«
»Ich weiß.«
»Guck nicht hin, ich bin mir sicher, sie beobachten uns.« Er seufzte. »Na, toll. Ist das etwa meine Tante Ginger?«
»Ich hatte grad schon das Vergnügen.« Luce lachte. »Sie will dich sehen.«
»Na klar will sie das. Aber bitte denk jetzt nicht, dass alle meine Verwandten so sind wie sie. Wenn du den Rest unseres Clans an Thanksgiving kennenlernst, dann wirst du …«
Thanksgiving mit Miles. Luce hatte das total vergessen.
»Oh.« Miles hatte ihre Miene bemerkt. »Glaubst du, dass Frankie und Steven dich an Thanksgiving gar nicht von hier weglassen?«
»Ich nehm mal an, dass ihr Satz mit dem ›bis auf Weiteres‹ genau das meinte«, sagte sie achselzuckend.
»Dann bist du deswegen so traurig.« Miles legte die Hand auf Luces nackte Schulter. Sie hatte es bis zu diesem Moment bedauert, ein so leichtes, ärmelloses Kleid angezogen zu haben. Bis sie jetzt seine Finger auf ihrer Haut spürte. Es war nichts gegen Daniels magische Berührung, bei der Luce sich immer wie elektrisiert fühlte. Aber es war unglaublich tröstlich.
Miles kam näher, beugte sein Gesicht über ihres. »Was ist?«
Sie schaute in seine dunkelblauen Augen. Seine Hand lag immer noch auf ihrer Schulter. Sie merkte, wie ihre Lippen sich öffnen wollten, um die Wahrheit auszusprechen. Oder was sie für die Wahrheit hielt. Es drängte sie, sich Miles anzuvertrauen.
Ihm zu sagen, dass Daniel nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte. Was möglicherweise auch bedeutete, dass sie nicht die war, für die sie sich bisher gehalten hatte. Dass all die Gefühle, die sie in Sword & Cross für Daniel empfunden hatte, immer noch da waren – ihr wurde ganz benommen, wenn sie daran dachte –, aber dass trotzdem alles jetzt ganz anders war. Dass alle ihr immer wieder beteuert hatten, diesmal sei alles anders, diesmal würde es ihr gelingen, aus dem Teufelskreis auszubrechen – aber keiner konnte ihr sagen, was das bedeutete. Vielleicht bedeutete das ja auch, dass Daniel und sie am Ende gar nicht zusammenfanden. Dass sie sich von all dem befreite und ihren eigenen Weg ging.
»Schwer, das alles in Worte zu fassen«, sagte sie schließlich.
»Ich weiß«, sagte Miles. »Mich hat es auch die ganze Zeit arg umgetrieben. Und da ist etwas, was ich dir unbedingt sagen muss …«
»Luce.« Francesca stand auf einmal bei ihnen und schob sich zwischen sie. »Zeit für dich, zu gehen. Ich begleite dich jetzt in dein Zimmer zurück.«
So viel zu ihrem Versuch, auf eigene Faust etwas zu unternehmen.
»Und Miles, deine Großtante und Steven wünschen dich zu sprechen.«
Miles schenkte Luce noch ein letztes mitfühlendes Lächeln, dann machte er sich zu seiner Tante auf den Weg.
An den Tischen saß inzwischen fast niemand mehr, aber Luce entdeckte Arriane und Roland an der Bar. Ein Schwarm von Nephilim-Mädchen umringte Dawn. Shelby stand etwas abseits mit einem großen Jungen zusammen, der weißblonde Haare und blasse, fast weiße Haut hatte.
Ihr Exfreund. Er musste es sein. Er stand wirklich sehr nahe bei ihr und wirkte, als wollte er sich dringend mit ihr versöhnen. Shelby erweckte klar den
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