Engelsmorgen
hab gesehen, wie seine Lippen sich bewegt haben, aber ich habe nichts hören können. Das hasse ich an den Verkündern.«
Beeil dich. Die Zeit verrinnt. Ebbe ist gleich vorbei.
Hatte Shelby das nicht gehört? Wie kalt und hartherzig Daniel da geklungen hatte? Und ohne jedes Schuldgefühl?
Dann erinnerte sich Luce: Es war noch nicht lange her, da hatte sie auch nicht hören können, was in den Verkündern gesprochen wurde. Da waren die Laute dort alle einfach nur Geräusche gewesen – Rauschen und Rascheln in den Baumwipfeln und ein dickes, nasses Schmatzen. Erst Steven hatte ihr beigebracht, wie sie die Stimmen herausfiltern musste. Fast wünschte sich Luce jetzt, er hätte es nicht getan.
Aber in dieser Botschaft des Verkünders musste mehr stecken. »Ich muss noch einmal einen Blick darauf werfen«, sagte Luce und wollte ans Fenster. Shelby zog sie zurück.
»Oh nein, das wirst du nicht. Der Verkünder kann inzwischen wer weiß wo sein und du hast Arrest, schon vergessen?« Shelby drückte Luce auf ihren Schreibtischstuhl. »Du bleibst schön hier, während ich jetzt noch mal in Mr Kramers Büro gehe, um mir meinen Dekotruthahn zu holen. Wir werden schnell vergessen, was wir da gesehen haben. Okay?«
»Okay.«
»Gut. Ich bin in fünf Minuten wieder da. Dass du mir nicht plötzlich verschwindest.«
Aber kaum war die Tür hinter Shelby zugefallen, kletterte Luce auch schon durchs Fenster auf den Mauersims, wo Daniel und sie in der vorigen Nacht gesessen hatten. Sie schaffte es nicht, einfach wieder zu vergessen, was sie da gerade gesehen hatte. Unmöglich. Sie musste den Schatten noch einmal herbeirufen. Selbst wenn sie dadurch in noch größere Schwierigkeiten geriet. Selbst wenn sie noch mehr Dinge sah, die ihr nicht gefielen.
Es war stürmisch geworden, und Luce musste sich hinkauern und an den Schindeln des Holzdachs festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Hände waren kalt. Ihr Herz war empfindungslos geworden. Sie schloss die Augen. Jedes Mal wenn sie einen Verkünder herbeizurufen versuchte, merkte sie wieder, wie wenig Übung sie doch darin hatte. Aber sie hatte einfach immer Glück gehabt – falls man es Glück nennen konnte, den eigenen Freund dabei zu beobachten, wie er auf jemanden herabsah, den er gerade ermordet hatte.
Sie spürte etwas Feuchtes auf ihrem Arm. War es der hässliche schmutzig braune Schatten, der ihr etwas noch Hässlicheres gezeigt hatte? Sie riss die Augen auf.
Er war es. Wie eine Schlange kroch er ihr bis zur Schulter hoch. Sie zerrte ihn dort weg und hielt ihn vor sich hin, versuchte, ihn zu einem Ball zu drehen. Der Verkünder entzog sich ihrer Berührung, wich rückwärts aus, sodass er aus ihrer Reichweite war, nur knapp von der Dachkante entfernt.
Sie blickte zwei Stockwerke nach unten. Ein paar Schüler verließen unten gerade das Wohnheim, wahrscheinlich um zum Brunch in den Speisesaal zu gehen. Bunte Gestalten, die sich vor einer grünen Fläche bewegten. Luce schwankte, ein Schwindelgefühl befiel sie, und sie spürte, wie sie nach vorne kippte.
Aber da stürmte der Schatten wie ein Fußballspieler auf sie zu und kickte sie gegen die Dachschräge zurück. Da lehnte sie nun keuchend, während der Verkünder ihr ein zweites Mal seine Botschaft zeigte.
Der Rauchschleier verzog sich, es wurde hell und klar, und Luce sah wieder Daniel mit seinem blutigen Stock. Sie hörte wieder die Schreie der Möwen, die über ihm am Himmel kreisten, und hatte den modrigen Geruch der am Strand angeschwemmten Algen in der Nase, sah die Wellen heranbranden. Und sie sah wieder die Gestalt auf dem Boden kauern. Die Leiche war nun ganz verschnürt. Die Gestalt richtete sich zu Daniel auf.
Cam.
Nein. Das konnte nicht wahr sein. Sie hassten einander. Hatten gerade erst eine riesige Schlacht gegeneinander geführt. Luce hatte sich damit abgefunden, dass Daniel womöglich schlimme Taten beging, um sie vor denen zu schützen, die hinter ihr her waren. Aber in welche finsteren Machenschaften musste er verstrickt sein, um sich mit Cam zu verbünden? Cams Hilfe zu suchen – dem es Freude bereitete zu töten?
Sie befanden sich in einer hitzigen Diskussion, aber Luce konnte nicht verstehen, was sie sagten. Die Uhr am Schulgebäude schlug gerade laut. Elf Uhr. Sie strengte sich an, um dem Wortwechsel zwischen Daniel und Cam zu lauschen. Endlich verklang der letzte Glockenschlag.
»Lass sie mich nach Shoreline bringen«, hörte sie schließlich Daniel mit flehender Stimme
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