Engelsmorgen
ihre Schwestern in den DVD -Player, der an Luces Computer angestöpselt war. Der einzige Platz, um gemeinsam den Film anzuschauen, war auf Luces Bett.
Auf einmal war Luce nervös. Bis jetzt waren sie nur zwei Freunde gewesen, die an einem Nachmittag miteinander ein paar Spiele spielten. Doch nun funkelten am Himmel die Sterne, das Wohnheim war leer, Feuer knisterte im Kamin und – ja, und was war mit ihnen beiden?
Sie saßen nebeneinander auf Luces Bett, und Luce war ununterbrochen mit ihren Händen beschäftigt, fragte sich dauernd, ob es wohl verkrampft und unnatürlich wirkte, wenn sie sie vor sich auf dem Bauch verschränkte, oder ob sie damit womöglich Miles’ Fingerspitzen streifte, wenn sie sie seitlich neben sich legte. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie sein Brustkorb sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Sie hörte, wie er sich am Hals kratzte. Er hatte seine Baseball-Kappe abgenommen und sie roch den Zitronenduft seines Shampoos.
»Hannah und ihre Schwestern« war einer der wenigen Woody Allen-Filme, den sie bisher noch nicht gesehen hatte. Aber sie konnte sich nicht so recht darauf konzentrieren. Noch bevor der Vorspann zu Ende war, hatte sie bereits drei Mal ihre Beine erst in der einen und dann in der anderen Richtung übereinandergelegt.
Die Tür ging auf. Shelby stürmte ins Zimmer, warf einen Blick auf Luces Computer und rief: »Der beste Thanksgiving-Film aller Zeiten! Kann ich ihn mitansch…« Dann entdeckte sie Luce und Miles, wie sie nebeneinander auf Luces Bett saßen. »Oh.«
Luce sprang auf. »Aber natürlich! Ich wusste nicht, wann du nach Hause fährst und …«
»Überhaupt nicht.« Shelby schmiss sich auf das obere Bett, was auch noch unten bei Luce und Miles ein kleines Erdbeben verursachte. »Meine Mutter und ich sind heftig aneinandergeraten. Frag nicht, es war total nervig. Egal, ich häng sowieso viel lieber mit euch beiden rum.«
»Aber, Shelby, was …« Luce konnte sich nicht vorstellen, mit ihrer Mutter über etwas so heftig ins Streiten zu geraten, dass sie deswegen an Thanksgiving nicht nach Hause fahren würde.
»Lasst uns einfach nur schweigend Woody Allen genießen«, befahl Shelby.
Miles und Luce warfen sich einen verschwörerischen Blick zu. »Okay, Boss«, rief Miles dann nach oben und grinste Luce an.
Um die Wahrheit zu sagen, war Luce erleichtert. Als sie es sich wieder bequem machte, streiften ihre Finger die von Miles, und er nahm kurz ihre Hand und drückte sie. Es war nur für einen Augenblick, aber lang genug, dass Luce wusste, alles würde gut werden. Zumindest, was das Thanksgiving-Wochenende betraf.
Siebzehn
Zwei Tage
Luce wachte davon auf, dass sie ein metallisches Kratzen und ein Klappern hörte. Wie Kleiderbügel, die von einer Stange genommen wurden. In ihrem Schrank.
Bevor sie die Augen aufschlagen konnte, um nachzusehen, was es mit diesem Geräusch wirklich auf sich hatte, wurde sie unter einem Berg von Kleidungsstücken begraben. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und schob dann die Jeans, T-Shirts und Pullis beiseite, um aufstehen zu können. Ein Kniestrumpf war auf ihrem Kopf gelandet, sie zog ihn weg. Karomuster.
Sie blinzelte erstaunt.
»Arriane?«
»Magst du lieber das rote? Oder das schwarze?« Arriane hielt zwei Kleider von Luce vor ihren zierlichen Körper und machte einen Hüftschwung, als wäre sie ein Model.
Erst jetzt fiel Luce auf, dass Arriane am Handgelenk nicht mehr die scheußliche elektronische Fessel trug, die sie ihr in Sword & Cross umgelegt hatten. Sie schauderte, als sie sich daran erinnerte, welch heftige Stromstöße jedes Mal durch Arrianes Körper geschickt worden waren, sobald sie irgendeine strenge Vorschrift verletzte. Mit jedem Tag hier in Kalifornien verblassten Luces Erinnerungen an Sword & Cross mehr und mehr, bis sie sich plötzlich durch ein Detail wie eben wieder dorthin zurückversetzt fühlte – an den grässlichsten Ort, den sie kannte.
»Elizabeth Taylor hat einmal gesagt, dass nur ganz wenige Frauen rot tragen können«, fuhr Arriane fort. »Man braucht dafür Busen und schöne Haut. Du hast beides, du Glückliche.« Sie nahm das rote Kleid vom Bügel und schmiss es auf den Haufen zu den anderen Sachen.
»Was machst du da?«, fragte Luce.
Arriane stemmte ihre schmalen Hände in die Hüften. »Ich helf dir packen, du Dummerchen. Du fährst nach Hause.«
»N-nach H-hause?«, stotterte Luce. »Wie meinst du das?«
Arriane lachte, machte ein paar Schritte zum Bett und streckte die
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