Engelsmorgen
nahm. »Hört sich ja so an, als dürfte man überhaupt keinen Spaß haben.«
»Callie hat recht«, sagte Luces Mom. »Ihr seid doch noch jung und das ganze Leben liegt noch vor euch. Ihr solltet auch euren Spaß dabei haben.«
Spaß haben. Vielleicht ging es an diesem Abend ja auch wirklich darum. Konnte sie das überhaupt? Einfach unbeschwert sein? Sie schaute zu Miles. Er lächelte. »Ich hab jedenfalls meinen Spaß«, schien er ihr stumm sagen zu wollen.
Und plötzlich veränderte das den Abend für Luce, die nun die Blicke über den Tisch wandern ließ und feststellte, dass auch sie ihren Spaß hatte, trotz aller Schwierigkeiten. Roland brachte Molly tatsächlich zum Lachen, als er eine Kostprobe ihres Shrimp Diablo nahm und danach japsend auf seinem Stuhl hing. Vielleicht lachte sie sogar das erste Mal in ihrem Leben. Cam spielte bei Callie den Charmeur und bot ihr sogar an, ihr Butter auf ihr Weißbrot zu streichen, was Callie mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schüchternen Kopfschütteln ablehnte. Shelby aß wie ein Weltmeister. Und unter dem Tisch versuchte immer noch ein Fuß, mit Luce Kontakt herzustellen. Ihr Blick kreuzte sich mit dem von Daniel. Seine violetten Augen schauten sie an.
Es war etwas Besonderes an dieser Tischrunde. Seit Luces Großmutter gestorben war und sie aufgehört hatten, zu Thanksgiving nach Louisiana zu fahren, hatte Luce kein so lebhaftes Thanksgiving mehr erlebt. Das war also nun ihre Familie: alle diese Menschen, Engel und Dämonen, oder was auch immer. Egal wie es nun weitergehen würde, durch Gut und Böse, wie kompliziert alles sein mochte, mit sämtlichen Hochs und Tiefs – und manchmal eben auch mit großem Spaß. Genau wie ihr Vater gesagt hatte: Das gehört zum Leben.
Und für ein Mädchen, das ziemlich viel Erfahrung mit dem Sterben hatte, war am Leben zu sein eine Erfahrung, für die sie in diesem Augenblick überwältigend dankbar war.
»Okay«, meinte Shelby schließlich, »ich hab jetzt wirklich genug. Vom Essen, meine ich. Sind alle anderen auch fertig? Dann sollten wir unsere Zelte hier abbrechen.« Sie pfiff auf den Fingern und machte dann eine Bewegung, als würde sie ein Lasso schleudern. »Ich kann’s kaum erwarten, wieder nach Sword & Cross zurückzukehren, um dort …«
»Ich helf, den Tisch abdecken.« Gabbe sprang auf und fing an, die Teller übereinanderzustapeln. Die widerstrebende Molly zog sie hinter sich her in die Küche.
Luces Mutter ließ immer noch verstohlene Blicke hin und her wandern und versuchte, die Tischrunde durch die Augen ihrer Tochter zu sehen. Was unmöglich war. Daniel als Freund ihrer Tochter schien sie gleich beeindruckt zu haben und sie schaute ununterbrochen zwischen den beiden hin und her. Luce hätte ihrer Mutter gern gezeigt, dass die Sache zwischen Daniel und ihr ernst, großartig und einfach unvergleichlich war. Aber es waren viel zu viele Leute um sie herum. Was so leicht hätte sein sollen, fiel ihr unglaublich schwer.
Dann hörte Andrew auf, an den Filzfedern herumzukauen, die ihm um den Hals gebunden waren, und begann, an der Tür zu jaulen. Luces Dad erhob sich vom Tisch und griff im Flur nach der Hundeleine. Was für eine Erleichterung. »Ich glaube, da will jemand einen Verdauungsspaziergang machen«, sagte er.
Auch ihre Mutter stand auf und Luce folgte ihr zur Tür und half ihr in ihren Anorak. Sie reichte ihrem Vater seinen Schal. »Danke für alles heute Abend. Wir kümmern uns in der Zwischenzeit um den Abwasch.«
Ihre Mutter lächelte. »Wir sind stolz auf dich, Luce. Egal was das Leben alles bringen mag. Das darfst du nie vergessen.«
»Diesen Miles mag ich«, sagte ihr Vater, während er Andrews Leine am Halsband einhängte.
»Und Daniel ist … einfach ganz besonders«, sagte ihre Mutter in bestimmtem Tonfall zu ihrem Vater.
Luce errötete und schielte zurück zum Tisch. Sie warf ihren Eltern einen Bitte-blamiert-mich-nicht-Blick zu. »Na dann! Ich wünsch euch einen schönen langen Spaziergang!«
Luce hielt die Haustür auf und sah ihnen nach, wie sie in die Nacht hinausspazierten. Andrew, der Pudel, zerrte so heftig an seiner Leine, dass es ihn fast würgte. Durch die offene Tür ein wenig kalte Luft hereinzulassen, war eine willkommene Abkühlung. Im Haus, mit all den vielen Leuten, war es fast zu warm. Ihre Eltern verschwanden gerade aus ihrem Blickfeld, da hatte Luce das Gefühl, draußen irgendetwas aufblitzen zu sehen.
Etwas, das wie ein Flügel aussah.
»Hast du das gesehen?«,
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