Engelsmorgen
überhaupt hier war. Daniel. Ob er wohl an sie dachte? Ob er sie genauso vermisste wie sie ihn?
Luce suchte sich einen Platz in der letzten Reihe aus, zwischen Jasmine und einem Jungen, der wie der typische nette, hübsche Junge von nebenan wirkte. Er trug abgeschnittene, ausgefranste Jeans, eine Dodgers-Kappe und ein dunkelblaues Sweatshirt. Ein paar Schritte entfernt standen ein paar Mädchen. Eine von ihnen hatte einen Wuschelkopf und eine rote Brille. Als Luce sie sah, wäre sie beinahe aufgesprungen und zu ihr rüber.
Penn.
Doch das konnte nicht sein. Als das Mädchen sich zufällig zu ihr umdrehte, war ihr Gesicht nicht ganz so rund, und sie war auch nicht im selben Schlabberlook gekleidet wie Penn. Und ihr Lachen war lauter. Luce hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz zerspringen. Natürlich war es nicht Penn. Sie würde Penn niemals mehr wiedersehen. Niemals.
Luce spürte, wie die anderen sie anschauten – manche schielten verstohlen, andere starrten ihr direkt ins Gesicht. Die Einzige, die das nicht tat, war Shelby. Sie nickte Luce nur kurz zu.
Die Klasse war nicht sehr groß, nur ungefähr zwanzig Schüler. An der Stirnseite befanden sich zwei lange Mahagonitische, dahinter zwei Whiteboards. Zwei Bücherregale auf jeder Seite. Zwei Schreibtischlampen, auf jedem Tisch eine. Zwei Laptops. Und die beiden Lehrer, Steven und Francesca, die neben dem Eingang standen und sich flüsternd unterhielten.
Die beiden musterten jetzt ebenfalls Luce, was sie verlegen machte, und traten danach an die beiden Tische. Francesca setzte sich an ihrer Seite auf die Tischplatte und ließ die Beine über die Kante baumeln. Steven lehnte sich gegen den anderen Tisch, klappte eine dunkelbraune Ledermappe auf, holte Papiere und einen Füller heraus. Für einen älteren Herrn sah er unglaublich attraktiv aus, aber Luce wünschte sich beinahe, dem wäre nicht so. Er erinnerte sie an Cam und daran, wie trügerisch der Charme eines Dämons sein konnte.
Sie wartete darauf, dass die anderen Schüler ihre Hefte und Bücher herauszogen. Selbst hatte sie ja noch keine. Während die anderen dann über irgendwelchen Aufgaben brüteten, konnte sie sich ganz ihren Gefühlen hingeben und ungestört von Daniel träumen.
Aber nichts davon geschah. Und die meisten Jugendlichen ringsum schielten immer noch verstohlen zu ihr hin.
»Inzwischen dürften alle von euch gemerkt haben, dass wir eine neue Schülerin haben.« Francescas Stimme war samtig und leise wie die einer Jazzsängerin.
Steven lächelte mit blitzend weißen Zähnen. »Nun, Luce, wie gefällt es dir hier in Shoreline?«
Luce wurde erst blass, dann feuerrot. Im Klassenzimmer waren laute, kratzende Geräusche zu hören. Die anderen drehten alle ihre Stühle zu ihr und starrten sie an.
Sie spürte, wie ihr Herz raste und ihre Handflächen feucht wurden.
Vergebens machte sie sich in ihrem Stuhl ganz klein und wünschte, sie wäre ein normaler Teenager in einer normalen Schule an einem normalen Ort, nämlich in Thunderbolt, Georgia. Immer wieder hatte sie sich in den vergangenen Tagen gewünscht, sie hätte nie einen Schatten gesehen, wäre in Sword & Cross nicht in all die Auseinandersetzungen hineingeschlittert, bei denen nicht nur ihre beste Freundin umgekommen war, sondern die sie auch in eine undurchschaubare Beziehung zu Cam verstrickten und es unmöglich machten, dass Daniel jetzt bei ihr war. Doch wenn sie so weit gekommen war, verhedderte sie sich regelmäßig in ihren Gedanken: Wenn nämlich alles normal wäre und sie auch, würde Daniel sie dann immer noch lieben? Daniel, der alles andere war, nur nicht normal? Unmöglich. Und deshalb war sie nun hier in Shoreline und musste sehen, wie sie zurechtkam.
»Ich glaube, ich muss mich noch eingewöhnen. Ich bin ja gerade erst angekommen.« Luces Stimme zitterte und verriet ihre Unsicherheit. »Aber es scheint hier in Shoreline ziemlich cool zu sein.«
Steven lachte. »Okay, Luce. Damit das für dich leichter ist, haben Francesca und ich uns gedacht, dass wir heute mal auf das übliche Referat am Dienstagvormittag verzichten und …«
Von der anderen Seite des Raums rief Shelby laut »Super!«, und da erst bemerkte Luce, dass sie vor sich auf dem Tisch einen Stapel Notizzettel liegen hatte und auf das Whiteboard groß HIMMELSERSCHEINUNGEN – PRO UND CONTRA geschrieben war. Luce hatte ihr offensichtlich erspart, an diesem Vormittag ein Referat halten zu müssen. Das müsste ihr eigentlich bei ihrer Zimmergenossin
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