Engelsmorgen
Pluspunkte eintragen.
»Steven will damit sagen«, fuhr Francesca fort, »dass wir als kleine Auflockerung heute erst einmal miteinander ein Spiel spielen werden.« Sie ließ sich vom Tisch gleiten, ging zwischen den Tischen umher und teilte an alle ein Blatt Papier aus. Ihre Absätze klapperten auf den Dielen.
Luce war auf ein großes Aufstöhnen gefasst, wie es in Sword & Cross todsicher der Fall gewesen wäre. Aber nein. Alle um sie herum wirkten locker und entspannt. Sie würden sich einfach auf das einlassen, was die Lehrer ihnen vorschlugen.
Als Francesca Luce ein Blatt reichte, sagte sie: »Dadurch bekommst du einen ersten Eindruck von den anderen Schülern und wie wir den Unterricht hier aufziehen.«
Luce blickte auf das Papier. Darauf waren Linien gezogen, die das Blatt in zwanzig Kästchen unterteilten. In jedem Kästchen stand ein Satz. Es handelte sich um ein Spiel, das sie schon kannte. Sie hatte es das erste Mal in einem Sommercamp in Westgeorgia gespielt und danach noch mehrere Male in Dover. Man musste durch den Raum gehen, ein paar Fragen stellen und jedem Schüler einen Satz zuordnen. Vor allem aber war sie erst einmal erleichtert. Sie hatte mit viel Schlimmerem gerechnet. Als sie jedoch das Blatt überflog – auf Aussagen gefasst wie »Hat eine Schildkröte als Haustier« oder »Möchte später mal einen Fallschirmsprung machen« –, entdeckte sie dort Fähigkeiten wie »Spricht mehr als achtzehn Sprachen« oder als Ferienerlebnis »Hat das Weltall besucht«, was sie doch etwas nervös machte.
Ganz klar, Luce war die Einzige in der Klasse, bei der es sich um keine Nephilim handelte. Sie musste an den nervösen jungen Kellner denken, der Shelby und ihr das Frühstück serviert hatte. Wahrscheinlich würde sie sich unter den normalen Schülern in Shoreline wohler fühlen. Beaker Brady ahnte ja nicht, welches Privileg es war, nicht in der Klasse für die »Schüler mit Sonderbegabung« zu sein.
»Wenn keiner Fragen hat«, sagte Steven, »dann können wir jetzt anfangen.«
»Geht nach draußen«, ergänzte Francesca. »Nehmt euch dafür so viel Zeit, wie ihr braucht.«
Luce folgte den anderen Schülern auf die Terrasse. Als sie gemeinsam zum Geländer vorgingen, beugte Jasmine sich zu Luce und deutete mit einem schwarz lackierten Fingernagel auf eines der Kästchen. »Ich hab einen Verwandten, der ein Vollblutcherub ist«, sagte sie. »Meinen verrückten alten Onkel Carlos.«
Luce nickte, als wüsste sie, was Jasmine meinte, und trug in das Kästchen Jasmines Namen ein.
»Oh ja, und ich kann in der Luft schweben.« Dawn deutete auf das Kästchen ganz oben links auf Luces Blatt. »Nicht zu jeder Tageszeit und nur wenige Zentimeter über dem Boden, aber wenn ich gerade Kaffee getrunken habe, dann schaff ich das.«
»Wahnsinn.« Luce musste sich stark zusammenreißen, um sie nicht allzu ungläubig anzustarren. Aber es wirkte nicht so, als würde Dawn einen Scherz machen. Sie konnte wirklich über dem Boden schweben?
Luce bemühte sich, die beiden nicht zu deutlich spüren zu lassen, wie fehl am Platz sie sich fühlte. Verzweifelt suchte sie auf dem Blatt Papier nach einem Satz, der auf sie zutraf.
Hat Erfahrung darin, die Verkünder herbeizurufen.
Die Schatten. An ihrem letzten Abend in Sword & Cross hatte sie von Daniel die offizielle Bezeichnung erfahren. Zwar hatte sie Verkünder nie »herbeigerufen« – sie waren einfach vor ihr aufgetaucht –, aber Erfahrung hatte sie mit ihnen. Das konnte man so sagen.
»Du kannst meinen Namen da eintragen.« Sie deutete auf das Kästchen unten links. Jasmine und Dawn blickten sie daraufhin ehrfürchtig an, aber keineswegs ungläubig. Dann gingen sie weiter, um den Rest des Blatts auszufüllen. Luces Herzschlag beruhigte sich etwas. Vielleicht würde das alles doch nicht so schlimm werden.
Innerhalb der nächsten Minuten machte sie unter anderem die Bekanntschaft von Lilith, einer spröden Rothaarigen, die mit ihren beiden Schwestern das Trio der »Nephilim-Drillinge« bildete (»Du kannst uns an den verkümmerten Flügelspitzen unterscheiden«, erklärte sie. »Bei mir sind die Federn gelockt.«); von Oliver, einem kleinen, stämmigen Jungen mit einer tiefen Stimme, der in den letzten Sommerferien das Weltall besucht hatte (»Total überschätzt, sag ich dir«); und von Jack, der das Gefühl hatte, dass bei ihm nicht mehr viel fehlte, um Gedanken lesen zu können (»Ich spüre, dass du das aufregend findest, hab ich nicht recht?«). Nur noch
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