Engelsmorgen
Zimmer?«
Luce nickte. »Von wegen nettes Nephilim-Mädchen …«, witzelte sie.
»Na ja, ich weiß, dass sie etwas, also wie soll ich sagen …« Miles machte mit der Hand eine Bewegung, wie wenn eine Katze ihre Krallen zeigt. »Egal, ich bin jedenfalls hier keine der ganz großen Nummern und auch kein Musterschüler, aber ich bin schon eine Weile hier und kenn mich ganz gut aus. Das meiste ist für meinen Geschmack zu durchgeknallt. Also, wenn du mal Lust auf ein ganz normales Frühstück mit einem Durchschnittsschüler haben solltest oder so was in der Art, dann …«
Luce nickte sofort wie wild. Normal. Durchschnittsschüler. Musik in ihren sterblichen Ohren.
»Zum Beispiel … morgen?«, fragte Miles.
»Klingt großartig.«
Miles grinste und winkte ihr im Weggehen zu. Plötzlich merkte Luce, dass alle anderen Schüler schon wieder ins Klassenzimmer verschwunden waren. Das erste Mal an diesem Morgen hatte sie ein paar Augenblicke für sich allein. Sie warf einen Blick auf das Blatt Papier in ihrer Hand, unsicher, was sie von ihren neuen Mitschülern halten sollte. Daniel fehlte ihr so sehr. Er hätte ihr bestimmt viel erklären können, wenn er bei ihr gewesen wäre. Wenn er nicht – aber wo war er eigentlich? Nicht einmal das wusste sie.
Jedenfalls weit weg. Viel zu weit weg.
Sie presste zwei Finger auf ihre Lippen, erinnerte sich an seinen letzten Kuss. Seine Umarmung. Seine Schwingen, die sie eingehüllt hatten. Ohne ihn war ihr so kalt, sogar in der Sonne Kaliforniens. Aber nur seinetwegen war sie hier, ihm allein verdankte sie es, dass sie in diese Klasse von Engeln, oder was auch immer sie waren, aufgenommen worden war. Und auch ihren neuen Ruf, ihre Berühmtheit verdankte sie nur ihm. Und auf merkwürdige Weise fühlte es sich gut und richtig an, in allem mit ihm so unlösbar verbunden zu sein.
Bis er wiederkam, um sie zu holen, war das der einzige Halt in ihrem Leben.
Drei
Sechzehn Tage
»Okay, schieß los, dein Eindruck von Shoreline! Erzähl mir ungeschminkt, was du von der Schule hältst!«
Es war Mittwochmorgen vor dem Unterricht, die Sonne schien und Luce saß mit Miles an einem Tisch auf der Frühstücksterrasse. Eine Kanne mit Tee stand vor ihnen. Miles hatte ein gelbes T-Shirt im Vintagelook mit Sunkist-Logo an, seine Baseballkappe bis knapp über die blauen Augen herabgezogen, trug Flipflops und wie am Vortag ausgefranste Jeans. Luce hatte sich ebenfalls der lockeren Bekleidungsordnung in Shoreline angepasst und ihre übliche schwarze Schulkluft aus Sword & Cross gegen ein rotes kurzes Kleid mitsamt weißer Strickjacke ausgetauscht. Darin fühlte sie sich wie am ersten Sonnentag nach einer langen Regenperiode.
Sie streute einen Löffelvoll Zucker in ihren Tee und lachte. »Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Vielleicht am besten mit meiner Zimmergenossin, die heute Morgen kurz vor Sonnenaufgang hereingeschlichen kam und schon wieder weg war, als ich kurze Zeit später endgültig aufwachte. Nein, warte mal, vielleicht doch eher mit der Tatsache, von einem Lehrerpaar unterrichtet zu werden, bei dem eine ein Engel und der andere ein Teufel ist. Oder vielleicht …« Sie schluckte. »… vielleicht auch mit der Art und Weise, wie die anderen Schüler mich hier mustern, als wäre ich so was wie eine Berühmtheit oder ein Freak. An ein Dasein als unbekannter Freak war ich ja gewohnt. Aber eine Außenseiterin mit Promistatus, das …«
»Du bist keine Außenseiterin oder ein Freak.« Miles biss von seinem Croissant ab. »Wer das behauptet, kriegt es mit mir zu tun«, sagte er kauend.
Danach wischte er sich mit der Serviette über den Mund, was Luce halb kichern, halb ehrfürchtig staunen ließ. Sie hatte noch nie jemanden mit so tadellosen Tischsitten erlebt. Wahrscheinlich hatte er als kleiner Junge im Golfklub seiner Eltern an einem Benimmkurs teilgenommen.
»Shelby wirkt vielleicht etwas ungehobelt«, sagte er, »aber sie kann auch ziemlich cool sein. Soll jedenfalls schon mal vorgekommen sein. Ich selbst hab das ja noch nicht erlebt.« Er lachte. »Und das Frankie/Steven-Doppel fand ich zuerst auch seltsam. Funktioniert aber. Ist so was wie ein himmlischer Balanceakt. Und weil beide Seiten vertreten sind, können die Schüler sich frei entwickeln.«
Da waren die Worte wieder. Sich frei entwickeln. Luce erinnerte sich, dass Daniel auch diesen Ausdruck verwendet hatte, als er ihr das erste Mal von Shoreline erzählte. Aber sich wohin entwickeln? Und auf welchem Gebiet? Das
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