Engelsmorgen
drei Kästchen waren leer, als Shelby neben Luce auftauchte und ihr das Blatt aus der Hand riss.
»Das kann ich beides«, sagte sie und deutete auf zwei Aussagen. »Was soll ich ankreuzen?«
Spricht mehr als achtzehn Sprachen und Hat in ein vergangenes Leben geblickt.
»Augenblick mal«, flüsterte Luce. »Du … du kannst in vergangene Leben blicken?«
Shelby musterte Luce mit zusammengekniffenen Augen und setzte ihren Namen dann in dieses Kästchen und in das mit den achtzehn Sprachen. Luce starrte auf das Blatt Papier. Sie hatte selbst keinerlei Erinnerung an die vielen Leben, die sie schon gelebt hatte, und das frustrierte sie wahnsinnig. Offensichtlich hatte sie Shelby unterschätzt.
Doch ihre Zimmergenossin war bereits wieder verschwunden. Stattdessen stand nun der Junge neben ihr, der vorher im Klassenzimmer neben ihr gesessen hatte. Er war einen Kopf größer als sie und lächelte sie mit einem freundlichen, breiten Grinsen an. Seine Nase war voller Sommersprossen, seine Augen strahlend blau. Alles an ihm, bis hin zu der Art und Weise, wie er an seinem Stift kaute, wirkte so, als ob ihn nichts erschüttern könnte. Luce fand es seltsam, dass sie das von jemandem dachte, mit dem sie noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Aber so war es.
»Na, so ein Glück!« Er lachte. »Das Einzige, was ich kann, steht in dem Kästchen, das bei dir noch übrig ist.«
»Kann im Spiegel ein Bild von sich selbst und anderen werfen«, las Luce laut vor.
Der Junge nickte und setzte dann seinen Namen auf das Blatt. Miles Fisher. »Muss jemanden wie dich ja bestimmt mächtig beeindrucken.«
»Ähm. Ja.« Luce wandte sich ab. Sie wusste nicht genau, wie er das gemeint hatte. Jemand wie sie. Sie hatte noch nicht einmal eine Ahnung, was das mit dem Spiegelbild bedeutete.
»Hey, wo willst du hin?« Miles zupfte sie am Ärmel. »Warte. Du hast kapiert, dass ich das ironisch gemeint habe, oder?« Als Luce den Kopf schüttelte, blickte er betreten drein. »Ich habe damit sagen wollen, dass ich, verglichen mit allen anderen in der Klasse, nicht gerade viel zu bieten habe. Die einzige Person außer mir selbst, deren Spiegelbild ich jemals werfen konnte, war meine Mutter. Das hat Dad ungefähr zehn Sekunden total fassungslos gemacht, aber dann war das Bild auch schon verschwunden.«
»Wie?«, fragte Luce ungläubig. »Das Spiegelbild, das du gesehen hast, war nicht von dir, sondern das von deiner Mutter?«
»Reiner Zufall. Sie sagen, dass es mit Personen, die man liebt, recht einfach ist.« Er errötete. Auf seinen Wangen war ein rosa Hauch zu sehen. »Bestimmt denkst du jetzt, dass ich ein Muttersöhnchen bin. Ich will damit nur sagen, weiter als bis zu ›recht einfach‹ reichen meine Kräfte nicht. Wohingegen du – du bist die berühmte Lucinda Price.« Er deutete eine ehrfürchtige Verbeugung an.
»Mir wäre lieber, wenn alle endlich damit aufhörten«, erwiderte Luce und hatte wegen dieser schnippischen Antwort dann gleich ein schlechtes Gewissen. Sie seufzte und beugte sich übers Geländer, um auf die Brandung tief unter ihr hinabzublicken. Sie kam einfach schwer damit klar, dass alle um sie herum mehr über sie zu wissen schienen als sie selbst. Aber dafür konnte Miles ja nichts. »Tut mir leid, ich … ähm, um ehrlich zu, hab ich gedacht, ich wäre die Einzige, die bei all den Nephilim kaum mithalten kann. Und was ist mit dir?«
»Ich? Ich gehöre zu der Sorte, die sie als ›stark verdünntes Blut‹ bezeichnen«, sagte er und machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Meine Mutter hat ein winziges bisschen Engelsblut in den Adern, da hat sich vor vielen Generationen mal ein Engel unter ihre Ahnen mütterlicherseits gemischt. Aber alle anderen bei uns waren Normalsterbliche. Meine Fähigkeiten sind total schwach ausgeprägt. Ich bin nur deshalb hier aufgenommen worden, weil meine Eltern, na ja, sie haben der Schule das Haus und die Terrasse gestiftet, auf der wir gerade stehen.«
»Wahnsinn!«
»Find ich echt nicht beeindruckend. Bei meinen Eltern ist das so was wie eine fixe Idee. Sie wollten unbedingt, dass ich hier in Shoreline aufgenommen werde. Du solltest mal hören, was für einen Druck sie mir machen. Dauernd fragen sie mich, wann ich endlich mal ›ein nettes Nephilim-Mädchen‹ mit nach Hause bringe.« Luce lachte – das erste richtige Lachen seit vielen Tagen. Miles verdrehte gutmütig die Augen. »Ich hab dich vorhin mit Shelby beim Frühstück gesehen. Teilt ihr euch das
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