Engelsmorgen
Tische an der Ostseite der Terrasse. Manchmal saß nur ein einziger Nephilim an einem Tisch, an dem auch sechs hätten Platz nehmen können. Shelby zum Beispiel saß ganz allein da und versuchte, Zeitung zu lesen, woran sie die Windböen immer wieder hinderten. Auf der Seite der Nephilim waren viele Stühle leer, aber von den anderen Jugendlichen schien niemand auf die Idee zu kommen, sich zu den Schülern mit »Sonderbegabung« setzen zu wollen.
Am Vortag hatte Luce auch ein paar der normalen Schüler kennengelernt. Am Nachmittag fand nämlich der Unterricht für alle im Hauptgebäude der Schule statt, das weit weniger beeindruckend war als die Nephilim-Lodge zwischen den Mammutbäumen. Im Hauptgebäude wurden alle traditionellen Fächer gelehrt wie Biologie, Geometrie oder Europäische Geschichte. Luce hatte die normalen Jugendlichen eigentlich ganz nett gefunden, aber dennoch war eine Distanz spürbar gewesen, die ein richtiges Gespräch verhinderte. Hatte das nur damit zu tun, dass sie im Begabtenprogramm war?
»Versteh mich nicht falsch, ich bin mit ein paar von denen auch befreundet.« Miles zeigte auf einen der voll besetzten Tische. »Mit Connor oder Eddie G. Fußball zu spielen, macht mir mehr Spaß als alles, was man mit den Nephilim so treiben kann. Aber glaubst du im Ernst, einer von denen wäre damit klargekommen, womit du klarkommen musstest? Wahrscheinlich hätten sie das alles gar nicht überlebt. Und könnten folglich nicht mehr davon erzählen.«
Luce rieb sich über die Stelle am Hals und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie spürte den Dolch von Miss Sophia immer noch. Viel schlimmer aber waren der Schmerz und die Trauer, wenn sie an Penn dachte. Ihre Freundin hatte in derselben Nacht sterben müssen. Ihr Tod war so sinnlos gewesen. Das war alles so ungerecht. »Ich hab auch nur knapp überlebt«, sagte sie leise.
»Ja, hab so was läuten hören«, sagte Miles. »Aber weißt du, das ist schon seltsam: Francesca und Steven geben uns groß Unterricht über unsere Welt der Gegenwart und der Zukunft, aber von der Vergangenheit erzählen sie nicht wirklich was. Dabei könnte uns das doch auch Kraft geben.«
»Wie meinst du das?«
»Du kannst mir alle möglichen Fragen zu der großen Schlacht stellen, die uns unmittelbar bevorsteht, und zu der Aufgabe, die einem kräftigen jungen Nephilim wie mir darin zufällt. Aber die ganze Vorgeschichte, die du angedeutet hast? Davon haben sie eigentlich nie richtig gesprochen. Schon komisch, oder? Aber wir müssen jetzt los!« Miles deutete auf die sich leerenden Tische ringsum. »Wollen wir das hier mal wieder machen?«
»Unbedingt.« Luce sagte das nicht nur so dahin, sie meinte es ernst. Sie mochte Miles. So gut wie mit ihm hatte sie sich schon lange mit niemandem mehr unterhalten. Miles war nett und humorvoll, sie hatte sich in seiner Gegenwart sofort wohlgefühlt. Aber etwas, das er gesagt hatte, beunruhigte sie. Die große Schlacht, die uns unmittelbar bevorsteht. Die Schlacht zwischen Daniel und Cam? Oder eine Schlacht zwischen ihnen und Miss Sophias Sekte der Ältesten? Wenn sogar die Nephilim sich darauf vorbereiteten, musste es sehr ernst sein. Und wo hatte sie, Luce, da ihren Platz?
Steven und Francesca hatten offensichtlich einen ganz besonderen Stil, sich zu kleiden, nämlich farblich aufeinander abgestimmt. Sie wirkten daher immer so, als wollten sie gleich auf ein gemeinsames Foto-Shooting, nicht einfach nur eine Unterrichtsstunde halten. An Luces zweitem Tag in Shoreline trug Francesca hochhackige goldene Sandalen im Gladiatorenstil und ein locker fallendes orangefarbenes Hängerkleid mit einer großen Schleife am Kragen. Steven war wie ein Gentleman gekleidet, mit cremeweißem Hemd und dunkelblauem Blazer, dazu eine Krawatte im selben Orangeton wie Francescas Kleid.
Sie sahen einfach umwerfend aus und Luce fühlte sich stark zu den beiden hingezogen. Allerdings nicht so, wie Dawn ihr das prophezeit hatte. Sie war weder in Francesca noch in Steven noch in beide gleichzeitig verknallt. Wenn sie von ihrem Platz zwischen Miles und Jasmine zu dem Lehrerpaar nach vorn blickte, fühlte sie sich an ihre eigene Beziehung zu Daniel erinnert.
Zwar hatte sie nie gesehen, wie die beiden sich tatsächlich berührten, aber wenn sie nah nebeneinander standen – was fast immer der Fall war –, herrschte eine so starke Anziehung zwischen ihnen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn sich davon die Wände verbogen hätten. Natürlich hatte das mit
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