Engelsmorgen
der immer noch leuchtender und bunter wurde, während das Schwarz wie ein Schleier zerriss. Steven und Francesca zogen weiter daran und traten langsam auseinander. Schließlich hatte der Schatten fast die Größe einer Kinoleinwand erreicht.
Die beiden Lehrer sagten nichts, was die Klasse vorbereitet hätte. Nach einem Augenblick des Schreckens wusste Luce auch, warum. Man konnte auf einen solchen Anblick nicht vorbereitet werden.
Der Farbwirbel legte sich, einzelne Formen, Umrisse und Gestalten wurden sichtbar. Sie schauten auf eine Stadt. Eine alte, von einer Stadtmauer umgebene Stadt … die lichterloh brannte. Menschen drängten sich zwischen den Mauern und Häusern, aus denen die lodernden Flammen schlugen. Die Münder, aus denen schwarze Leere gähnte, hatten sie weit aufgerissen, die Arme zum Himmel hochgereckt. Alles wurde von den gefräßigen Flammen aufgezehrt. Überall züngelten die Flammen, regnete es Feuerregen nieder, der Mensch und Vieh und Häuser in Brand steckte.
Luce glaubte, durch den Schattenschirm hindurch selbst den Rauch zu spüren, und fing zu husten an, sie roch die Fäulnis und Verwesung. Vor ihren Augen spielte sich Schreckliches ab. Seltsamerweise aber konnte sie keinen Laut hören. Die anderen Schüler um sie herum zogen dagegen die Köpfe ein, als wollten sie den Schreien der Gepeinigten, ihrem grässlichen Heulen ausweichen, von dem Luce nichts vernahm. Für Luce blieb alles still und stumm, während vor ihren Augen immer mehr Menschen starben.
Lange würde sie das nicht mehr ertragen können. Da verwandelte sich das Bild, die Stadt wurde kleiner, bis sie nur noch aus der Ferne zu sehen war. Auf einmal erkannte Luce, dass nicht nur eine, sondern zwei Städte brannten, und ein Gedanke stieg in ihr auf, an den sie sich wie von fern erinnerte, weil er ihr vor sehr langer Zeit vertraut gewesen war. Sie wusste auf einmal, was da vor ihren Augen geschah. Die Städte, die da brannten, waren Sodom und Gomorrha. Gott hatte sie zerstört. Die Bibel berichtete davon.
Als würden sie einen Schalter ausknipsen, schnippten Steven und Francesca dann mit den Fingern, und das Bild verschwand. Die Überreste des Schattens zerstoben in tausend Teilchen, die als Aschewolke durchs Klassenzimmer schwebten und sich schließlich auf den Fußboden niedersenkten. Um Luce herum hielten alle Schüler den Atem an.
Luce konnte den Blick nicht von der Stelle wenden, wo der Schatten ausgespannt gewesen war. Wie hatte er das Bild der brennenden Stadt hervorbringen können? Inzwischen sammelten sich die winzigen Stäubchen des Schattens bereits wieder und nahmen die Luce bereits vertraute finstere Gestalt an. Der herbeigerufene Verkünder hatte seinen Dienst erfüllt. Er schob sich träge über den Holzboden und glitt dann aus dem Klassenzimmer. Steven schloss die Glastür hinter ihm.
»Ihr fragt euch vielleicht, warum wir euch das gerade zugemutet haben«, sagte er zur Klasse. Francesca und er musterten die erschreckten Gesichter der Schüler und wechselten einen besorgten Blick. Dawn hatte zu weinen angefangen.
»Wie ihr alle wisst«, fuhr Francesca fort, »befassen wir uns im Unterricht hier die meiste Zeit damit, welche Kräfte und Fähigkeiten ihr als Nephilim habt. Wie ihr in den Lauf der Dinge eingreifen könnt, um die Welt zu verbessern – was auch immer jeder von euch darunter verstehen mag. Wir blicken lieber vorwärts als zurück.«
»Was ihr heute gesehen habt«, sagte Steven, »war mehr als nur eine mit ein paar Spezialeffekten angereicherte Geschichtsstunde. Wir haben nicht nur ein Bild heraufbeschworen. Ihr habt da tatsächlich Sodom und Gomorrha brennen sehen, von dem Großen Tyrannen zerstört, der …«
»Vorsicht, Vorsicht!«, rief Francesca mit erhobenem Zeigefinger. »Wir haben abgemacht, dass wir neutral bleiben.«
»Natürlich. Du hast ja recht, wie immer. Manchmal lasse ich mich einfach zu Propaganda hinreißen.« Steven grinste in die Klasse. »Also, wie ich schon angedeutet habe, die Verkünder sind mehr als einfache Schatten. Sie können sehr wichtige Informationen übermitteln. In gewisser Weise wiederum sind sie dennoch Schatten – nämlich Schatten der Vergangenheit. Sie berichten uns von lange oder auch nicht so lange zurückliegenden Ereignissen.«
»Was ihr heute gesehen habt«, erläuterte Francesca, »sollte euch demonstrieren, wie unschätzbar wichtig die Schatten für euch sein können, wenn ihr eines Tages die Fähigkeit entwickelt habt, mit ihnen so umzugehen, wie
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