Engelsmorgen
wir beide es können. Einige von euch werden diese Fähigkeit früher oder später haben.«
»Aber jetzt seid ihr noch lange nicht so weit.« Steven wischte sich die Hände mit einem Taschentuch ab, das er aus der Hosentasche gezogen hatte. »Ja, wir verbieten euch hiermit ausdrücklich, es auszuprobieren. Es besteht nämlich große Gefahr, dass ihr die Kontrolle verliert und von den Schatten aufgesogen werdet. Vielleicht später einmal, dann könnt ihr diese Möglichkeit nutzen, um mehr über ferne Ereignisse zu erfahren.«
Luce blickte zu Miles. Er grinste sie breit an, als wäre er erleichtert zu hören, dass es bis dahin noch weit war. Er schien sich überhaupt nicht ausgeschlossen zu fühlen, jedenfalls nicht auf dieselbe Weise wie Luce.
»Und noch etwas«, fügte Francesca hinzu. »Die meisten von euch wirken recht erschöpft.« Luce blickte ringsum auf die Gesichter, während Francesca sprach. Die Hälfte der Jugendlichen hatte die Augen geschlossen. »Das ist normal. Einblick in die Schatten zu nehmen, hat seinen Preis. Es verlangt bereits viel Energie, auch nur ein paar Tage in die Vergangenheit zu blicken, da kostet es erst recht viel Kraft, gleich Jahrtausende zurückzureisen. Na, ich brauche dazu nicht viel zu sagen, ihr spürt es ja selbst. Und weil das so ist …«, sie schaute zu Steven. »… hören wir heute auch früher auf, damit ihr euch ausruhen könnt.«
»Morgen geht’s dann mit frischer Kraft weiter«, sagte Steven. »Vergesst nicht, eure Hausaufgaben zu machen! Es geht ums Unsichtbarwerden. Ich hab euch ja schon gesagt, welchen Text ihr dafür lesen sollt. Und jetzt könnt ihr gehen!«
Um Luce herum erhoben sich alle Schülerinnen und Schüler langsam von ihren Stühlen. Sie wirkten benommen und erschöpft. Als sie selbst aufstand, waren ihre Knie etwas wackelig, aber sie schien weniger mitgenommen zu sein als die anderen. Sie wickelte sich fest in ihre Strickjacke und folgte Miles aus dem Klassenzimmer hinaus.
»Ziemlich krasse Sache«, sagte er, während er immer zwei Treppenstufen auf einmal von der Terrasse hinunter zum Rasen nahm. »Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut«, sagte Luce. Was auch stimmte. »Und du?«
Miles fuhr sich über die Stirn. »Hat sich angefühlt, als wären wir wirklich dort. Ich bin froh, dass sie früher Schluss gemacht haben. Muss mich echt kurz hinlegen.«
»Oje!«, rief Dawn, die auf dem gewundenen Pfad zurück zum Wohnheim zu ihnen aufschloss. »Das hätte ich an einem Mittwochmorgen wirklich am wenigsten erwartet. Ich fühl mich echt total fertig.«
Es stimmte: Die Zerstörung von Sodom und Gomorrha war grässlich anzuschauen gewesen. Alles war so wirklich gewesen, dass Luce immer noch die Hitze des Feuers spürte.
Sie nahmen eine Abkürzung, an der Nordseite des Speisesaals vorbei, im Schatten der Mammutbäume. Seltsam, das Schulgelände so verlassen daliegen zu sehen. Alle anderen Schüler saßen im Hauptgebäude beim Unterricht. Sobald sie das Wohnheim erreicht hatten, verschwanden die Nephilim nacheinander in ihren Zimmern, um sich auszuruhen.
Außer Luce. Sie war überhaupt nicht müde. Im Gegenteil, sie fühlte sich regelrecht energiegeladen. Wieder einmal wünschte sie, Daniel wäre bei ihr. Sie hätte jetzt so gern über Francescas und Stevens Lektion gesprochen – und von ihm erfahren, warum er ihr nicht erzählt hatte, dass es mit den Schatten noch viel mehr auf sich hatte, als sie bisher glaubte.
Vor ihr führte die Wendeltreppe zu ihrem Zimmer hoch. In ihrem Rücken, draußen vor der Tür, stand der Wald aus Mammutbäumen. Luce fasste einen Entschluss. Mit schnellen Schritten ging sie wieder aus dem Wohnheim hinaus, sie wollte nicht in ihr Zimmer, sie wollte nicht vor dem, was da gerade im Unterricht geschehen war, die Augen verschließen und so tun, als hätte sie nichts gesehen. Francesca und Steven hatten der Klasse sicherlich nicht einfach nur einen Schrecken einjagen wollen. Sie mussten noch etwas anderes im Sinn gehabt haben. Sie hatten ihnen etwas beibringen wollen. Etwas, das sie ihnen nur zeigen, nicht mit Worten sagen konnten. Wenn aber die Verkünder ihnen allen Nachrichten aus der Vergangenheit überbrachten und so etwas wie deren Echo waren – wie lautete dann die Botschaft des Ereignisses, dem sie gerade alle beigewohnt hatten?
Luce ging in den Wald hinein.
Es war elf Uhr vormittags, aber unter dem dunklen Laubdach der Bäume hätte es auch Mitternacht sein können. Gänsehaut überlief sie, als sie
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