Engelsmorgen
ihrer Macht als gefallene Engel zu tun, aber das allein konnte es nicht sein. Es musste auch damit zu tun haben, wie stark sie sich einander verbunden fühlten. Luce konnte nicht anders, sie verspürte ein Gefühl von Neid und Eifersucht. Die beiden erinnerten sie unablässig daran, was sie selbst in diesem Augenblick nicht haben konnte.
Die meisten Schüler saßen bereits auf ihren Plätzen. Auch Dawn und Jasmine setzten sich. Eben noch hatten sie auf Luce eingeredet, sie solle doch ihrem Planungskomitee beitreten und ihnen helfen, alle möglichen Freizeitaktivitäten der Nephilim-Schüler zu organisieren. Luce hatte sich bisher noch in keiner Schule in irgendwelchen Komitees engagiert. Aber Dawn und Jasmine waren so nett zu ihr, und Jasmines Gesicht hatte so geleuchtet, als sie von dem Jachtausflug erzählte, den sie für Ende der Woche planten, dass Luce beschlossen hatte, diesmal aktiv zu werden. Sie trug sich in die Liste ein. In diesem Moment trat Steven vorn ans Pult, warf seinen Blazer über den Stuhl und breitete wortlos die Arme aus.
Als hätte er ihn damit herbeigerufen, löste sich im selben Augenblick ein tiefer schwarzer Schatten von einem der Mammutbäume vor der Terrasse. Er rollte über das Gras, wurde immer mächtiger und schlüpfte dann durch die offene Schiebetür in das Klassenzimmer. Das alles geschah in Sekundenschnelle. Wo er vorüberzog, verfinsterte sich der helllichte Tag. Im Raum war es beinahe stockdunkel geworden.
Luce stieß einen leisen Schrei aus, aber da war sie nicht die Einzige. Fast alle Schüler verdrückten sich Schutz suchend hinter ihre Bänke, während Steven den Schatten um sich selbst zu drehen begann. Er streckte die Hände aus, packte ihn und wirbelte ihn herum, immer schneller und schneller. Bald drehte sich der Schatten so schnell, dass er nur noch ganz unscharf zu sehen war, wie ein Rad, dessen Speichen ineinander verschwimmen. Ein fauliger Geruch wehte aus der Mitte des Wirbels zu Luce herüber.
Steven hielt weiter die Arme ausgestreckt. Schließlich verwandelte er den Schatten von einer gestaltlosen Masse in eine kompakte schwarze Kugel, nicht größer als eine Grapefruit. Das Klassenzimmer war wieder hell.
»Guten Morgen, alle miteinander«, sagte er, während er den schwarzen Ball mit der rechten Hand hochwarf und wieder auffing. »Ich glaube, ihr wisst schon, was heute Vormittag Unterrichtsthema ist.«
Francesca trat neben ihn und ließ den Schatten in ihre Hände hinübergleiten. Mit ihren hohen Absätzen war sie fast genauso groß wie Steven, und es wirkte ganz so, als sei sie im Umgang mit den Schatten mindestens genauso erfahren wie er.
»Irgendwann hat jeder von euch schon einmal einen Verkünder gesehen«, sagte sie. Mit langsamen Schritten ging sie zwischen den Tischen hindurch, sodass alle den kugeligen Schatten in ihren Händen genau betrachten konnten. »Und ein paar von euch«, sagte sie und sah dabei Luce an, »haben auch schon Erfahrungen gesammelt, wie es ist, mit ihnen zu arbeiten. Aber wisst ihr auch wirklich, wer oder was sie sind? Habt ihr wirklich eine Ahnung, über welche Fähigkeiten sie verfügen?«
Sie sind so was wie bessere Klatschtanten, dachte Luce, die sich daran erinnerte, was Daniel ihr in der Nacht, als sich die Schlacht auf dem Friedhof ereignete, erzählt hatte. Sie war noch zu neu in Shoreline, um sofort mit der Antwort herauszuplatzen. Doch keiner ihrer Mitschüler schien über die Schatten Bescheid zu wissen. Langsam hob sie die Hand.
Francesca nickte ihr zu. »Luce.«
»Sie überbringen Nachrichten«, sagte sie, allmählich selbstsicherer werdend. Sie wusste das ja schließlich von Daniel. »Aber sie sind harmlos.« So hatte er es ihr versichert.
»Überbringer von Botschaften, ja. Aber harmlos?« Fran-cesca blickte zu Steven. Luce konnte aus ihrem Tonfall nicht entnehmen, ob sie etwas Richtiges oder Falsches gesagt hatte. Das verunsicherte sie.
Francesca stellte sich wieder neben Steven und hielt den Schatten an einer Seite fest, während er das auf der anderen Seite tat. Dann zogen beide kräftig daran. »Jetzt lasst uns mal sehen, was der uns hier mitzuteilen hat«, sagte sie.
Der Schatten wuchs und blähte sich auf wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird. Es gab ein merkwürdig glucksendes Geräusch, dann verschwand auf einmal das dicke Schwarz, und Farben tauchten auf, so bunt und leuchtend, wie Luce noch nie in ihrem Leben welche gesehen hatte. Smaragdgrün, Golden, Rosa und Purpurrot. Ein Wirbel von Farben,
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