Engelsmorgen
Meditation fort. Im Zimmer war es still. Luce stellte den Computer auf ihrem Schreibtisch an und schaute auf den Bildschirm. Sie dachte darüber nach, was sie ihren Eltern schreiben wollte, auf alle Fälle musste alles möglichst harmlos klingen. Ach ja, und wenn sie dabei war, dann konnte sie auch gleich eine E-Mail an Callie schreiben, die ihr in der vergangenen Woche einen Haufen bisher noch ungelesener Nachrichten geschickt hatte.
So leise und langsam wie möglich, um Shelby keinen weiteren Anlass zum Hass auf sie zu bieten, tippte Luce einen Brief an ihre Eltern:
Liebe Mom, lieber Dad, ihr fehlt mir beide so sehr. Deshalb wollte ich euch einfach nur mal kurz schreiben. Hier bei mir in Sword & Cross ist alles in Ordnung.
Sie musste sich zwingen, nicht zu schreiben: Soweit ich weiß, ist diese Woche noch keiner umgekommen. Ihre Finger hätten das fast von allein hingetippt.
Der Unterricht macht mir viel Spaß, schrieb sie stattdessen. Stellt euch vor, ich bin jetzt sogar in der Schwimmmannschaft!
Luce schaute durchs Fenster in den Nachthimmel. Die Sterne funkelten. Sie musste schnell Schluss machen. Sonst würde sie doch noch etwas schreiben, womit sie sich verriet.
Wenn nur das Regenwetter nicht wäre, das kann einem ganz schön auf die Nerven gehen … Aber so ist eben der November in Georgia! Liebe Grüße, Luce
Sie kopierte die Sätze gleich auch noch in eine E-Mail an Callie, änderte ein paar Wörter, fuhr mit der Maus auf »Senden«, schloss die Augen, klickte zwei Mal und saß danach mit gesenktem Kopf da. Sie war eine grässliche Tochter und eine verlogene Freundin. Was hatte sie sich dabei eigentlich gedacht? Das waren die nichtssagendsten, alarmierendsten E-Mails, die sie jemals geschrieben hatte. Die würden ihre Eltern und Callie erst recht aufschrecken.
Ihr Magen knurrte. Dann ein zweites Mal. Noch lauter. Shelby räusperte sich.
Luce fuhr auf ihrem Stuhl herum. Aber Shelby hatte mit dem Sonnengebet angefangen und machte gerade den Hund, deshalb konnte sie ihr nicht ins Gesicht schauen. Luce spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ich hab Hunger, okay? Warum beschwerst du dich nicht ganz offiziell? Dann verlegen sie mich vielleicht in ein anderes Zimmer.«
Shelby hüpfte mit beiden Füßen auf ihrer Yogamatte nach vorne, richtete sich auf, breitete die Arme zu einer Gebetshaltung aus und teilte ihr mit: »Ich wollte dir gerade sagen, dass ich in meiner Sockenschublade Makkaroni mit Käse habe. Eine Fertigpackung. Kein Anlass für die Tränendrüsen.«
Ein paar Minuten später saß Luce auf ihrem Bett, hatte einen dampfenden Teller Nudeln mit Käsesoße vor sich, trockene Augen und eine Zimmergenossin, die sie plötzlich nicht mehr zu hassen schien.
»Ich hab nicht geheult, weil ich hungrig war.« Luce wollte das unbedingt klarstellen, obwohl die Makkaroni mit Käse ein so unerwartetes Geschenk von Shelby und so gut waren, dass ihr beinahe schon wieder die Tränen kamen. Luce wollte gern jemandem ihr Herz öffnen, und Shelby war, nun ja, sie war eben gerade da. Zwischen ihr und Luce hatte sich die Lage vielleicht noch nicht völlig entspannt, aber dass Shelby ihren Essensvorrat mit Luce teilte, war ein riesengroßer Schritt für jemanden, der bisher kaum ein Wort mit ihr geredet hatte. »Ich, ähm, es geht um meine Eltern. Ich hab so was wie Heimweh, glaub ich.«
»Huu-huu«, meinte Shelby, die ebenfalls einen Teller Makkaroni vor sich hatte. »Lass mich raten. Deine Eltern sind immer noch glücklich verheiratet und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen bei euch?«
»Das ist nicht fair«, sagte Luce und richtete sich kerzengerade auf. »Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.«
»Und hast du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe?« Shelby starrte Luce an, bis sie die Augen senkte. »Ich glaub nicht. Dann geb ich dir mal ein paar kleine Hinweise: einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter. Ob ich einen Vaterkomplex habe? Wahrscheinlich. Schwer, mit mir auszukommen, weil ich nicht gern teile? Ganz bestimmt. Was ich aber auf den Tod nicht ausstehen kann, ist so ein gepampertes Töchterchen, Daddys Liebling, zu Hause alles wunderbar und mit einem Bilderbuchfreund, das bei mir aufkreuzt, um mir was von seinem schrecklichen Unglück vorzujammern, weil es sich hier so allein fühlt.«
Luce schnappte nach Luft. »Das ist nicht alles.«
»Nein? Dann klär mich auf.«
»Ich bin total verlogen«, sagte Luce. »Ich … ich lüge die Menschen an, die ich liebe.«
»Du
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