Engelsmorgen
ihres nämlich dort gleich am ersten Tag abgeben müssen. Mr Cole hatte ihr dann ein neues zugesteckt, kurz bevor sie in das Flugzeug nach Kalifornien gestiegen war. Sie hatte nichts davon, denn es diente nur dazu, dass er sie erreichen konnte. Von Zeit zu Zeit würde er sich bei ihr melden, hatte Mr Cole ihr gesagt, um ihr mitzuteilen, was der Kenntnisstand bei ihren Eltern war. Ihre Eltern glaubten nämlich, sie sei immer noch in Sword & Cross, und Mr Cole erzählte ihnen regelmäßig, wie es ihrer Tochter dort erging. Und das erzählte er Luce dann auch, damit sie ihre eigenen Lügengeschichten auf seine abstimmen konnte.
Niemand außer Mr Cole hatte überhaupt ihre neue Handynummer. Daniel hatte mit ihr aus irgendwelchen Sicherheitsgründen nichts vereinbart, wie sie ihn erreichen konnte. Und jetzt hatte dieses überflüssige Handy ihr auch noch ihren ersten richtigen Erfolg bei einem Schatten vermasselt.
Sie zog es heraus und las die SMS , die Mr Cole ihr geschickt hatte:
Ruf deine Eltern an. Sie glauben, dass du bei mir eine 1– in Geschichte geschrieben hast. Und dass du nächste Woche mit der Schwimmmannschaft von Sword & Cross antrittst. Und vergiss nicht: Du musst vor deinen Eltern unbedingt so tun, als sei alles in Ordnung.
Und kurz darauf eine zweite:
Ist bei dir denn auch alles in Ordnung?
Luce stopfte das Handy wieder in den Rucksack und stapfte zum Wohnheim zurück. Der Boden des Mammutbaumwalds war weich und dick mit Nadeln übersät. Seit der SMS von Mr Cole war sie mit den Gedanken woanders. Was in Sword & Cross jetzt wohl alle machten? War Arriane noch dort, und wenn ja, wem schickte sie nun im Unterricht ihre Papierflieger mit den kleinen Nachrichten? Hatte Molly sich ein neues, anderes Mädchen als größte Feindin ausgesucht, wo doch Luce nicht mehr da war? Oder waren die beiden inzwischen auch weggegangen? Waren sie vorher vielleicht nur wegen Luce und Daniel an der Schule gewesen? Hatte Randy die Geschichte geschluckt, dass Luces Eltern sie auf einmal an einer anderen Schule angemeldet hatten? Luce seufzte. Sie hasste es, ihren Eltern nicht die Wahrheit erzählen zu dürfen, hasste es, ihnen nicht erzählen zu dürfen, wie es ihr ging, wie einsam sie sich so weit weg von zu Hause fühlte.
Und jetzt sollte sie sie auch noch anrufen? Sollte ihnen vorlügen, sie habe eine 1– in Geschichte geschrieben? Wäre Mitglied in der Schwimmmannschaft von Sword & Cross? Danach würde sie sich noch mieser fühlen.
Mr Cole musste vollkommen verrückt sein, dass er von ihr verlangte, ihre Eltern anzurufen und ihnen etwas vorzulügen. Doch wenn sie ihren Eltern die Wahrheit sagte – die volle Wahrheit –, würden sie glauben, Luce sei verrückt. Und wenn sie sich überhaupt nicht bei ihnen meldete, würden sie spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Sie würden in Sword & Cross aufkreuzen, würden feststellen, dass ihre Tochter dort nicht mehr war – und dann?
Sie könnte ihnen eine E-Mail schreiben. In einer E-Mail zu lügen, fiel ihr nicht so schwer. Damit hatte sie ein paar Tage gewonnen, bevor sie sie dann wirklich anrufen musste. Sie würde ihnen gleich heute noch eine E-Mail schreiben.
Luce trat aus dem Wald heraus und hielt verdutzt inne. Es war Nacht. Sie blickte zurück. Wie lang war sie dort zwischen den mächtigen Stämmen und unter dem üppigen Laubdach der Mammutbäume gewesen? Wie viel Zeit hatte sie mit dem Schatten verbracht? Sie schaute auf die Uhr. Es war halb acht. Sie hatte das Mittagessen verpasst. Und den Nachmittagsunterricht. Und das Abendessen. Im Wald war es so dunkel gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie die Zeit verging. Aber jetzt spürte sie es plötzlich. Sie fror. Sie war müde und hungrig.
Nachdem sie in dem labyrinthartigen Wohnheimgebäude bereits drei Mal falsch abgebogen war, fand Luce endlich die richtige Zimmertür. Sie hoffte, Shelby sei wieder mal dorthin verschwunden – wo auch immer das war –, wohin sie nachts häufiger verschwand, steckte den riesigen, altmodischen Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete die Tür.
Kein Licht war an, aber im Kamin brannte Feuer. Shelby saß im Schneidersitz auf dem Boden und meditierte. Als Luce hereinkam, klappte Shelby ein Auge auf und starrte sie verärgert an.
»Tut mir leid«, flüsterte Luce und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. »Kümmer dich nicht um mich. Tu so, als wäre ich nicht da.«
Eine Weile machte Shelby das dann auch. Sie schloss die Augen und setzte ihre
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