Engelsmorgen
war, nach einem erfolgreichen Versuch wieder hochzukommen, alle Partygäste schienen dann mit einem mitzufeiern. Luce gab es jedes Mal einen Adrenalinschub.
Einfach nur Spaß zu haben, fiel ihr gar nicht so leicht. Normalerweise folgte bei ihr auf jedes unbeschwerte Lachen ein Schuldgefühl, irgendetwas nagte dann immer an ihr, als dürfte sie sich aus diesem oder jenem Grund nicht einfach so freuen. Heute aber fühlte sie sich wie befreit. Ohne es zu merken, war es ihr geglückt, diese Bürde abzuschütteln. Die Last der Finsternis.
Als Luce sich für den fünften Durchgang anstellte, war die Schlange bereits erheblich kürzer geworden. Die Hälfte der Partygäste war mittlerweile ausgeschieden. Sie standen um Miles oder Roland herum und schauten den restlichen Limbotänzern zu. Luce war eine der Letzten, die drankamen. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen und dachte nur an den Limbo. Als plötzlich jemand ihren Arm umklammerte, wäre sie vor Schreck fast gestolpert und hingefallen.
Sie wollte aufschreien, aber eine Hand hielt ihr den Mund zu.
»Schsch.«
Daniel zerrte sie aus der Schlange heraus. Fort von der Party. Seine Hand glitt ihren Hals hinab, seine Lippen berührten ihre Wange. Es dauerte kaum länger als einen Augenblick, aber seine Haut auf ihrer zu spüren, das violette Leuchten in seinen Augen zu sehen, das alles machte Luce benommen. Glücklich und benommen. Sie wollte ihn für immer festhalten und nie mehr gehen lassen.
»Was machst du hier?«, flüsterte sie. Sie wollte eigentlich sagen: Wie schön, dass du da bist und: Ich hab dich so vermisst , vor allem aber: Ich liebe dich . Gleichzeitig waren jedoch in ihrem Kopf so viele Fragen: Warum hast du mich allein gelassen? und Ich hab gedacht, du darfst nicht hierherkommen? und Was ist das für ein Waffenstillstand?
»Ich musste dich einfach sehen«, sagte er. Ein verschwörerisches Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sie hinter einen großen Felsen am Strand führte. Das Lächeln war ansteckend, denn es fand sich sogleich auch auf Luces Lippen wieder. Mit diesem Lächeln gaben beide einander nicht nur zu verstehen, dass ihnen bewusst war, gegen ein Verbot zu verstoßen – sondern auch, mit welch großer Freude sie das taten.
»Als ich immer näher heranflog, um alles auf der Party beobachten zu können, sah ich euch tanzen«, sagte er. »Und da war ich plötzlich eifersüchtig.«
»Eifersüchtig?«, fragte Luce. Sie war mit Daniel jetzt allein. Sie schlang ihre Arme um seine breiten Schultern und schaute ihm tief in seine violett gesprenkelten Augen. »Warum solltest du eifersüchtig sein?«
»Darum«, sagte er und strich mit den Händen über ihren Rücken. »Deine Tänze sind nämlich alle schon an mich vergeben. Von nun an bis in alle Ewigkeit.«
Daniel nahm ihre rechte Hand in seine linke, legte ihre andere Hand auf seine Schulter und begann mit ihr im Sand einen Slowfox. Die Musik von der Party war auch hier noch zu hören, aber leise und plötzlich melodisch. Es war, als spielten sie nur für sie. Luce schloss die Augen und schmiegte sich an Daniel. Ihr Kopf sank an seine Schulter, sein ganzer Körper fühlte sich an, als sei er eigens für sie erschaffen.
»Warte mal, das stimmt noch nicht ganz«, sagte Daniel nach einem Augenblick. Er deutete auf ihre Füße. Sie bemerkte, dass er selbst barfuß war. »Zieh deine Schuhe aus«, sagte er. »Ich will dir zeigen, wie Engel tanzen.«
Luce schlüpfte aus ihren schwarzen Ballerinas und schleuderte sie fort. Der Sand zwischen ihren Zehen war weich und kalt. Als Daniel sie an sich zog, gab es mit den Füßen ein kleines Durcheinander, und sie hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, aber er hielt sie fest in seinen Armen. Als sie nach unten sah, stand sie auf seinen Füßen. Und als sie wieder hochsah, erblickte sie, wonach sie sich hier Tag und Nacht gesehnt hatte. Daniel entfaltete seine mächtigen silberweißen Flügel.
Sie füllten ihr ganzes Gesichtsfeld aus und erstreckten sich um das Doppelte seiner Körpergröße in den Himmel. Die Flügel leuchteten strahlend hell in der Nacht, sie waren wunderschön. Sie mussten die prächtigsten Engelsflügel im ganzen Himmel gewesen sein. Luce spürte, wie sie gemeinsam vom Boden abhoben. Seine Schwingen schlugen sanft, fast unmerklich, wie ein Herz schlägt. Sie schwebten über dem Sand.
»Bist du bereit?«, fragte er.
Wofür bereit, wusste sie nicht. Es spielte auch keine Rolle.
Sie glitten nun durch die Luft, geschmeidig
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