Engelsmorgen
früheres Ich von ihr das getan, da war sich Luce sicher. Und erst recht würde sie das jetzt nicht hinnehmen.
Ihre Verärgerung und ihre Wut hatten sich auch nach dem Unterricht nicht gelegt, das spürte Luce, als sie jetzt durch den Nebel zum Wohnheim ging. Doch sie fühlte sich auch müde und leer. Fast wie eine Marionette bewegte sie sich den Flur entlang, bis sie endlich vor ihrer Tür stand, und schlurfte dann weiter ins Zimmer. Shelby war nicht da. Das Briefkuvert, das jemand unter der Tür hindurchgeschoben hatte, hätte sie fast nicht bemerkt.
Der Umschlag war aus billigem, ungebleichtem Papier, im Format eines Geschäftsbriefs. Als sie ihn umdrehte, entdeckte sie vorne in Blockbuchstaben ihren Namen. Sie riss ihn auf. Vielleicht von Daniel, vielleicht entschuldigte er sich ja. Sie wollte ihn eigentlich auch um Verzeihung bitten.
Der Briefbogen, den sie herauszog, war aus demselben Papier und doppelt gefaltet. Ein mit Schreibmaschine getippter Brief.
Liebe Luce,
ich will dir schon lange etwas Wichtiges sagen. Wie wär’s, wenn wir uns heute Abend um sechs in der Stadt treffen, in der Nähe von Noyo Point? Der Bus 5 den Highway 1 entlang hält eine Viertelmeile südlich von Shoreline. Busticket liegt bei. Ich warte am Nordkliff auf dich. Freu mich, dich zu sehen.
Alles Liebe, Daniel
Tatsächlich steckte in dem Umschlag noch ein kleines Stück Papier. Luce zog ein blau-weißes Busticket heraus. Die Vorderseite war mit einer Fünf bedruckt und auf die Rückseite war ein Plan von Fort Bragg gekritzelt. Das war alles. Sonst nichts.
Luce begriff das nicht. Kein Wort über ihren Streit am Strand. Keinerlei Hinweis darauf, dass Daniel auch nur im Entferntesten ahnte, wie unmöglich sein Verhalten war. Er konnte sich doch nicht an einem Abend nach einem heftigen Streit einfach in Luft auflösen und dann am nächsten Tag von ihr erwarten, dass sie auf einen Fingerschnipp zu ihm eilte.
Kein Wort der Entschuldigung.
Irgendwie seltsam. Und die logistischen Probleme, mit denen sich normale Menschen herumschlagen mussten, kümmerten ihn sonst eigentlich überhaupt nicht. Daniel konnte auftauchen, wie es ihm gefiel. Überall, jederzeit.
Der Brief in ihrer Hand fühlte sich fremd und kalt an. Sie verspürte einen Augenblick den Impuls, einfach so zu tun, als hätte sie ihn nie erhalten. Der Streit steckte ihr noch in den Knochen, sie war immer noch wütend auf ihn, weil er ihr so wenig erzählen wollte. Aber die verliebte Luce in ihr fragte sich sofort ängstlich, ob sie da nicht zu hart mit ihm war. Was würde er denn dann von ihr denken? Wenn sie nicht einmal bereit war, seinetwegen in den Bus zu steigen und nach Fort Bragg zu fahren? Sie erinnerte sich daran, wie seine Augen geleuchtet hatten, wie weich seine Stimme geklungen hatte, als er ihr von damals erzählte, von ihrer Begegnung zur Zeit des kalifornischen Goldrauschs. Er hatte sie durchs Fenster gesehen und sich sofort in sie verliebt – wie die Hundert und Aberhundert Male zuvor.
Die Erinnerung an Daniels Augen und seine Stimme begleitete Luce, als sie kurz darauf Zimmer und Wohnheim verließ und in dichtem Nebel den Weg zum Tor von Shoreline einschlug. Zur Bushaltestelle, an der sie laut Daniels Weisung den Bus 5 nehmen sollte. Immer wieder sah sie dabei seine violett gesprenkelten Augen vor sich, bittend blickte er sie an, während sie wartete. Farblose Autos tauchten aus dem Nebel auf, bogen um eine Kurve und verschwanden wieder.
Als sie einen Blick zurück auf die Shoreline School warf, ohne von den Gebäuden mehr als schemenhafte Umrisse erkennen zu können, erinnerte sie sich daran, was Jasmine auf der Party zu ihr gesagt hatte: Solange wir auf dem Gelände bleiben, sozusagen unter ihrem Schutzschirm, können wir so ziemlich alles tun, worauf wir Lust haben. Luce trat jetzt unter dem Schirm hervor, aber was sollte daran schlimm sein? Sie war nicht einmal eine richtige Schülerin in Shoreline. Und Daniel wiederzusehen, war es auf alle Fälle wert.
Kurz nach halb kam der Bus angefahren und hielt direkt vor Luce.
Der Bus war alt und grau und klapperig, genauso wie der Fahrer, der die Tür öffnete, um Luce einsteigen zu lassen. Sie setzte sich drei Reihen hinter ihn auf einen der vielen freien Plätze. Es roch muffig, nach einer alten Garage oder verstaubten Scheune. Mit beiden Händen umklammerte sie den Sitz mit dem billigen Plastiklederbezug, als der Bus mit voller Geschwindigkeit die Kurven nahm – ungeachtet der Tatsache, dass knapp
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