Engelsmorgen
Daniel musterte sie ohnehin bereits, als hätte sie etwas falsch gemacht.
»Du wirst nicht an diesem Jachtausflug teilnehmen.«
»Was?«
»Du bleibst bis auf Weiteres hier auf dem Gelände und tust, was ich dir sage.« Daniel schaute sie ernst und eindringlich an. Er schien zu spüren, welche Wut in ihr hochstieg. »Ich hasse es, dir Vorschriften zu machen, Luce, aber … Was glaubst du, was ich alles anstelle, damit du hier sicher bist. Ich will einfach nicht, dass dir etwas zustößt.«
»Ob gut oder schlecht oder irgendwas«, erwiderte Luce. »Ich glaub, du willst einfach nicht, dass ich ohne dich etwas unternehme.«
»Das ist nicht wahr«, rief Daniel wütend. Luce hatte bei ihm noch nie erlebt, dass er so schnell außer Fassung geraten war. Dann blickte er auf einmal zum Himmel hoch und Luce folgte seinen Augen. Ein Schatten flitzte über ihren Köpfen dahin, wie ein Feuerwerkskörper, eine schwarze Rauchfahne hinter sich zurücklassend. Daniel musste die Botschaft sofort entziffert haben.
»Ich muss fort«, sagte er.
»Aha, so läuft das also.« Sie wandte sich ab. »Plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen, einen Streit anfangen und dann wieder abhauen. Das muss wirklich Liebe sein.«
Daniel packte sie an den Schultern und schüttelte sie, bis sie ihn ansah. »Es ist Liebe«, erwiderte er mit einer solchen Verzweiflung in der Stimme, dass Luce nicht sagen konnte, ob dadurch ihr eigener Schmerz gelindert oder noch verstärkt wurde. »Das weißt du. Die wahre, große Liebe.« Seine Augen brannten in violettem Feuer – nicht aus Zorn, sondern vor Begehren. Er sah sie so leidenschaftlich an, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu lieben. Mit einem so innigen Blick sah er sie an, dass sie sich schmerzlich nach ihm sehnte, obwohl er doch vor ihr stand.
Daniel neigte sich herab, um Luce zu küssen. Doch sie war den Tränen nahe, verlegen drehte sie sich weg. Sein Kuss streifte ihre Wange. Sie hörte ihn seufzen. Dann ein Flügelschlagen.
Nein.
Als sie den Kopf wandte, stieg Daniel bereits in den Himmel empor. Seine Schwingen leuchteten silberweiß. Wie der Blitz schoss er davon, befand sich schon auf halbem Weg zwischen dem Ozean und dem Mond. Einen Augenblick später konnte sie ihn nicht mehr von den Sternen am Himmel unterscheiden.
Fünf
Vierzehn Tage
Dichter Nebel hatte sich nachts über den Küstenstrich von Fort Bragg gelegt, als hätte eine reglose, unsichtbare Armee von der Landschaft Besitz ergriffen. Auch bei Sonnenaufgang lösten die dichten, feuchten Schwaden sich nicht auf. Der Nebel durchsickerte alles. Seine Trübnis strahlte auf alle Schüler ab. Den ganzen Freitag fühlte sich Luce in der Schule, als wäre alles ein träge dahinströmender Brei. Der Unterricht wollte überhaupt nicht enden, die Lehrer wirkten, als hätten sie Schlaftabletten genommen, und waren nicht so recht bei der Sache. Die Schüler hockten lethargisch da und kämpften damit, die Augen offenzuhalten.
Als endlich die letzte Stunde vorbei war, hatte der Trübsinn dieses Tages Luce bis ins Innerste gelähmt. Sie wusste nicht, was sie an dieser Schule überhaupt sollte, sie gehörte nicht hierher, was für ein komisches Leben wie auf Abruf führte sie eigentlich hier? Und was war aus ihrem eigenen, wirklichen Leben geworden? Alles, was sie fühlte, war eine große Leere. Sie wollte nur noch in ihr unteres Etagenbett kriechen, wie in eine Höhle, schlafen und das alles vergessen – nicht nur das schlechte Wetter am Ende ihrer ersten langen Woche in Shoreline, sondern auch ihren Streit mit Daniel und den Wirrwarr aus Fragen und Ängsten, der sich in ihrem Kopf drängte.
In der Nacht davor hatte sie kein Auge zugemacht. Durch Finsternis und Nebel war sie in den frühen Morgenstunden allein in ihr Zimmer zurückgestolpert, wo sie sich schlaflos auf ihrem Bett gewälzt hatte. Aber sie fand einfach keinen Schlaf. Dass Daniel sie von allem ausschloss und ihr nichts sagte, hatte sie nicht mehr überrascht, aber das machte es nicht leichter. Und dann dieser verletzende, machohafte Tonfall, in dem er ihr befohlen hatte, auf dem Schulgelände zu bleiben. Du bleibst bis auf Weiteres hier auf dem Gelände und tust, was ich dir sage. Was sollte das denn auf einmal? Sie lebte doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Vielleicht, kam es Luce plötzlich, hatte Daniel ja in früheren Jahrhunderten tatsächlich so zu ihr gesprochen. Aber genauso wenig wie Jane Eyre oder Elizabeth Bennet das hingenommen hätten, hätte ein
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