Engelsmorgen
daneben die Steilküste tief zum Ozean mit seinen anbrandenden grauen Wogen abfiel.
Als sie in der Kleinstadt ankamen, hatte es zu regnen begonnen, ein stetiger Nieselregen, der offensichtlich zu schüchtern war, um sich zu einem richtigen Schauer auszuwachsen. Die meisten Geschäfte an der Hauptstraße hatten bereits geschlossen und die ganze Stadt wirkte nass und trostlos. Nicht gerade das Ambiente, das Luce sich für eine glückliche Versöhnungsszene gewünscht hätte.
Noch während sie ausstieg, zog sie ihre schwarze Skimütze aus dem Rucksack und setzte sie auf. Sie spürte den kalten Regen auf Nase und Fingerspitzen. Ein verbogener grüner Metallpfeil zeigte den Weg zum Noyo Point. Sie folgte dem Schild.
Noyo Point war eine große Halbinsel, deren Gras nicht so saftig grün war wie das des Schulgeländes von Shoreline und zwischen dem immer wieder nasser grauer Sand hervorlugte. Die wenigen Bäume waren klein und schief gewachsen, die letzten Blätter wurden von jähen Windstößen davongetragen. Eine einsame Bank stand am Ende des Wegs, nahe am Rand der Steilküste und ein gutes Stück von der Straße entfernt. Das musste Daniel gemeint haben. Dort sollten sie sich treffen. Aber Luce erkannte bereits aus der Ferne, dass er noch nicht da war. Sie blickte auf die Uhr. Bereits fünf Minuten später als vereinbart.
Daniel kam nie zu spät.
Feine Regentröpfchen umhüllten ihre Haarspitzen, die unter der schwarzen Mütze hervorlugten, aber die Haare waren nicht wirklich nass. Nicht einmal Mutter Natur wusste so recht, was sie mit der blond gefärbten Luce anfangen sollte. Luce hatte keine Lust, im Nieselregen auf Daniel zu warten. Sie kehrte zur Hauptstraße zurück, wo sie sich unter dem hölzernen Vordach eines geschlossenen Geschäfts unterstellte. Auf einem rostigen Metallschild war in verblichenen blauen Buchstaben FRED’S FISH zu lesen.
Fort Bragg war nicht so malerisch wie Mendocino, wo Daniel und sie auf der Herfahrt angehalten hatten. Bevor er mit ihr dann nach Shoreline weitergeflogen war. In der Stadt hatten sich etwas Handel und Gewerbe angesiedelt, vor allem aber gab es einen alten Fischerhafen, dessen Molen langsam vor sich hin zu rotten schienen. Während Luce vor dem Geschäft wartete, gingen gerade mehrere Fischer an Land. Nacheinander kamen sie in ihrem nassen Ölzeug die Felsstufen vom Hafen heraufmarschiert, hagere, kräftige Männer, die Wind und Wetter gewöhnt waren.
Als sie die Straße erreicht hatten, gingen sie allein oder in Gruppen schweigend erst an den Läden mit den vernagelten Fenstern und dann an der leeren Bank und den traurigen, kümmerlichen Bäumen vorbei zu einem Parkplatz an der Südspitze von Noyo Point. Sie kletterten in ihre Trucks, die wahrscheinlich schon ziemlich viele Jahre auf dem Buckel hatten, ließen den Motor an und fuhren weg. Als nur noch wenige Fischer vom Hafen heraufkamen, fiel Luce jemand ins Auge – er war von keinem der Fischkutter gekommen. Ganz plötzlich war die Gestalt aus dem Nebel aufgetaucht. Luce wich zurück und presste sich gegen das Eisenrollo des Fischgeschäfts. Sie hielt die Luft an.
Cam.
Er marschierte die Straße entlang und kam direkt auf das Fischgeschäft zu, rechts und links von zwei dunkel gekleideten Fischern begleitet, die seine Anwesenheit nicht zu bemerken schienen. Unverkennbar, mit seiner engen schwarzen Jeans und seiner schwarzen Lederjacke. Seine dunklen Haare waren kürzer, als sie sie in Erinnerung hatte, und glänzten vom Regen ebenfalls schwarz. Wenn man genau hinsah, konnte man seitlich an seinem Hals eine Spitze seines schwarzen Sonnentattoos erkennen. Ringsum war im Nieselregen alles farblos und grau, aber Cams Augen leuchteten so intensiv grün, wie sie schon immer geleuchtet hatten.
Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, hatte Cam an der Spitze einer furchterregenden Armee von Dämonen gestanden, alle hartherzig, grausam und abgrundtief böse. Luce hatte es bei ihrem Anblick eiskalte Schauder durch den Körper gejagt. Ihr lagen jetzt Verwünschungen und Flüche auf der Zunge, die sie Cam entgegenschleudern wollte. Aber noch besser wäre es, wenn er sie gar nicht bemerkte. Wenn sie mit ihm nichts mehr zu tun hatte. Niemals mehr.
Zu spät. Cams Blick aus seinen grünen Augen fiel auf Luce, er steuerte sofort auf sie zu – und sie erstarrte. Nicht weil er wieder den aalglatten, falschen Charmeur spielte, auf den sie in Sword & Cross beinahe reingefallen wäre. Sondern weil er ernstlich berunruhigt und
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