Engelsmorgen
Parkplatz zu bleiben. »Was ich immer noch nicht verstanden habe«, sagte sie, als Cam in Richtung Shoreline abbog, »wenn diese Outcasts weder zum Himmel noch zur Hölle gehören, auf wessen Seite sind sie dann?«
»Die Outcasts sind weder weiß noch schwarz, sondern eine widerliche Graumischung. Falls du das noch nicht bemerkt haben solltest, es gibt viel Schlimmeres als mich.«
Luce presste auf dem Schoß die Hände ineinander. Sie wollte nur noch zurück in ihr Wohnheimzimmer, wo sie sich sicher fühlen konnte. Oder wenigstens vor sich so tun konnte, als sei sie dort sicher. Warum sollte sie Cam glauben? Schon viel zu oft war sie auf seine Lügen hereingefallen.
»Es gibt nichts Schlimmeres als dich. Was du vorhast … was du in Sword & Cross vorhattest, war einfach nur grässlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Du willst mich bestimmt nur wieder übel reinlegen.«
»Will ich nicht.« Cam klang weniger streitsüchtig, als sie erwartet hatte. Er wirkte nachdenklich, ja sogar niedergeschlagen. Inzwischen befanden sie sich bereits auf der langen, kurvigen Zufahrt nach Shoreline. »Ich wollte dich nie verletzen, Luce, niemals.«
»Hast du deshalb all die Schatten zur Schlacht herbeigerufen? Damals auf dem Friedhof?«
»Gut und böse sind nicht so klar voneinander unterschieden, wie du vielleicht denkst.« Vor ihnen tauchten die Gebäude von Shoreline auf. So finster, als wäre dort keine Menschenseele. »Du bist doch aus den Südstaaten, richtig? Dann müsstest du doch wissen, dass immer die Sieger die Geschichte schreiben. Alles eine Sache des Blickwinkels, Luce. Was du für böse hältst, na ja, für mich und die Unsrigen ist böse nur so ein Adjektiv, wie gut auch.«
»Daniel sieht das aber anders.« Luce wünschte, sie hätte sagen können, dass sie das auch nicht so sah. Aber dafür wusste sie noch zu wenig. Sie hatte das Gefühl, viel zu sehr auf Daniels Erklärungen vertrauen zu müssen.
Cam hielt mit dem Truck auf dem Rasen hinter dem Wohnheim an, stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. »Daniel und ich sind zwei Seiten derselben Medaille.« Er bot ihr die Hand an, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Luce beachtete ihn nicht. »Eigentlich wie Pech und Schwefel. Auch wenn du das nicht gern hörst.«
Sie wollte ihm erwidern, dass das niemals wahr sein konnte, dass es zwischen ihm und Daniel keine Gemeinsamkeiten gab, egal wie gern Cam sich das alles anders zurechtgebogen hätte. Aber seit ihrer Ankunft in Shoreline hatte Luce so manches gesehen und gehört, was nicht zu dem passte, was sie früher geglaubt hatte. Sie musste an Francesca und Steven denken. Sie stammten aus demselben Ort. Vor langer, langer Zeit waren sie dort geboren worden, vor dem großen Krieg und dem Engelssturz hatte es sowieso nur eine Seite gegeben. Cam war nicht der Einzige, der behauptete, dass die Unterscheidung zwischen Engeln und Dämonen kein einfaches Schwarz-Weiß war.
In ihrem Fenster brannte Licht. Luce sah Shelby vor sich, wie sie im Lotussitz auf dem orangefarbenen Teppich saß und meditierte. Wenn Luce jetzt gleich vor Shelby trat, wie konnte sie da so tun, als sei nichts geschehen? Als hätte sie nicht gerade einen Engel sterben sehen? Als hätte alles, was sich in dieser Woche ereignet hatte, sie nicht an ganz vielem zweifeln lassen?
»Was da heute Abend passiert ist, das bleibt am besten unter uns«, sagte Cam. »Und in Zukunft tu uns bitte allen den Gefallen und bleib auf dem Schulgelände. Hier bist du sicher.«
Luce schob sich an ihm vorbei, querte das Scheinwerferlicht des gestohlenen Trucks und tauchte in den Mauerschatten des Wohnheims ein.
Cam stieg wieder ein und ließ den Motor aufheulen. Aber bevor er losfuhr, kurbelte er noch einmal das Fenster hinunter und rief Luce zu: »Nichts für ungut.«
Sie drehte sich um. »Was denn?«
Er grinste und trat aufs Gaspedal. »Dass ich dir das Leben retten durfte.«
Sechs
Dreizehn Tage
»Hier ist es!«, rief eine laute Stimme früh am nächsten Morgen vor Luces Zimmertür. Dann folgte ein Klopfen. »Endlich!«
Das Klopfen ließ nicht nach. Luce hatte keine Ahnung, wie spät es war. Auf alle Fälle aber war es für das Kichern, das sie auf der anderen Seite der Tür hören konnte, zu früh.
»Müssen deine Freundinnen sein«, meinte Shelby vom oberen Etagenbett.
Luce stöhnte, schob die Bettdecke zurück und stand auf. Sie warf einen Blick auf Shelby, die oben bäuchlings auf dem Bett lag und ein Kreuzworträtsel löste –
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