Engelsmorgen
Nicht-Nephilim-Schüler oder -Lehrer geglaubt hätte, etwas anderes als die Natur sei am Werk. Luce blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Gleich darauf zweifelte sie und fragte sich, ob sie vielleicht nur glaubte, es gesehen zu haben. Oder war es wirklich geschehen? Da klatschte Dawn lautlos Beifall.
»Unglaublich, wie immer.«
Francesca lächelte. »Besser so, nicht wahr?«
Luce begann auf einmal, die vielen anderen kleinen Dinge zu registrieren, die ebenfalls das Werk eines Engels sein konnten. Dass die Fahrt in dem weich gefederten Bus heute so viel angenehmer als gestern gewesen war. Dass die Häuser in der Hauptstraße plötzlich viel frischer wirkten, als hätte die ganze kleine Stadt einen neuen Anstrich erhalten.
Die Schüler stellten sich in einer langen Schlange an, um an Bord der Jacht zu gehen. Dort glänzte alles auf eine Weise, wie nur sehr, sehr teure Dinge glänzen. Die elegante Umrisslinie erinnerte an eine Muschel und jedes der drei Decks hatte eine eigene Sonnenterrasse. Als Luce die Jacht betrat, blickte sie durch die riesengroßen Fenster des Vorderdecks in luxuriös möblierte Kabinen. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Ihre Bedenken wegen der Outcasts und Cam wirkten auf einmal total lächerlich. Ihre Zweifel waren plötzlich wie weggeblasen.
Luce folgte Miles in die große Kabine auf dem mittleren Deck der Jacht. Das Innere war in einem gedeckten Grau-Beige gestaltet. Lange Sitzbänke schmiegten sich an die gekurvten Wände an. Ein Dutzend Schüler hatten sich bereits auf den weichen Polstern niedergelassen und bedienten sich an den auf den niedrigen Tischen bereitgestellten Häppchen.
An der Bar öffnete Miles eine Dose Cola, schenkte zwei Gläser ein und reichte eines davon Luce. »Sagt der Dämon zum Engel: ›Mich verklagen? Was glaubst du, wo du hinmusst, um einen Rechtsanwalt zu finden?‹« Er stupste sie in die Seite. »Hast du’s kapiert? Weil Rechtsanwälte nämlich alle …«
Ach so, die Pointe. Sie war mit den Gedanken woanders gewesen und hatte gar nicht mitgekriegt, dass Miles ihr einen Witz erzählte. Luce zwang sich, laut loszulachen und sogar mit der Hand auf den Tresen zu schlagen. Miles guckte erleichtert, aber auch misstrauisch, weil ihre Reaktion so übertrieben war.
»Wow«, sagte Luce und fuhr ihr falsches Gelächter wieder herunter. »Der war echt gut.« Sie fühlte sich verlegen, weil sie Miles etwas vorgegaukelt hatte.
Neben ihnen hielt Lilith – das große rothaarige Drillingsmädchen, mit dem Luce sich an ihrem ersten Tag in Shoreline unterhalten hatte – ihr Thunfisch-Sandwich vor den Mund, ohne abzubeißen. »Was ist denn das für ein blöder Witz?«, sagte sie zu Luce, nicht zu Miles, und verzog mürrisch das Gesicht. »Glaubst du wirklich, das ist zum Lachen, Luce? Warst du jemals in der Unterwelt? Dann würdest du verstehen, dass man darüber keine Witze macht. Von Miles ist ja nichts anderes zu erwarten, aber ich hätte gedacht, dass du einen besseren Geschmack hast.«
Luce war völlig überrumpelt. »Mir war nicht klar, dass es sich dabei um eine Geschmacksfrage handelt«, sagte sie. »Aber ich halte natürlich zu Miles.«
»Schsch.« Francescas manikürte Hände legten sich plötzlich auf die Schultern von Luce und Lilith. »Worüber auch immer ihr euch gerade streitet, denkt bitte daran: Ihr seid mit dreiundsiebzig Nicht-Nephilim-Schülern auf einem Schiff. Deshalb gilt die Parole: Diskretion, bitte.«
Daran hatte Luce sich immer noch nicht gewöhnen können, denn es gehörte zu den merkwürdigsten Dingen in Shoreline. Die ganze Zeit über, während sie mit den normalen Schülern zusammen waren, mussten sie nämlich immer so tun, als würden sie in der Nephilim-Lodge einen völlig anderen Unterricht erhalten, als dies der Fall war. Und Luce wollte doch so bald wie möglich unbedingt mit Francesca über die Verkünder sprechen, wollte ihr von ihrem Erlebnis im Wald erzählen.
Francesca ging bereits weiter und Shelby schob sich neben Luce und Miles. »Was meint ihr wohl, wie viel Diskretion von mir verlangt wird, wenn ich den dreiundsiebzig Nicht-Nephilim auf der Luxustoilette der Jacht hier heimlich den Kopf in die Kloschüssel stecke?«
»Du bist böse.« Luce lachte und griff gleich zwei Mal zu, als Shelby ihr eine Platte mit Häppchen unter die Nase hielt. »Sieh mal einer an, wie freigiebig du sein kannst«, sagte Luce. »Dabei hast du doch gesagt, du bist ein Einzelkind.«
Luce nahm sich noch ein Lachshäppchen, dann stellte
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