Engelsmorgen
Shelby die Platte zurück. »Gewöhn dich bloß nicht dran.«
Als die Schiffsmotoren unter ihnen angelassen wurden, jubelten alle Schüler auf. Luce gefielen diese Augenblicke in Shoreline am besten: wenn sie nicht hätte sagen können, wer Nephilim war und wer nicht. Mehrere Mädchen trotzten der Kälte draußen und lachten, während ihre Haare im Wind flatterten. Ein paar Jungen aus ihrem Geschichtskurs hatten sich in einer Ecke zu einer Runde Poker zusammengesetzt. An diesem Tisch hätte Luce eigentlich auch Roland erwartet. Wo steckte er eigentlich?
Weiter vorne machte Jasmine Fotos von allen. Dawn blickte zu Luce, ahmte mit der Hand eine Schreibbewegung nach und erinnerte sie daran, dass sie noch gemeinsam ihre Rede verfassen mussten. Luce wollte gerade zu ihnen, als sie durchs Fenster draußen Steven bemerkte.
Er stand allein da und lehnte sich gegen die Reling. Er trug einen langen schwarzen Trenchcoat und hatte einen Fedora auf dem Kopf, der seine grau melierten Haare verdeckte. Luce hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er ein Dämon war. Vor allem verstörte sie, dass sie ihn trotzdem mochte – oder ihn zumindest so weit mochte, wie sie ihn kannte. Und die Beziehung zwischen ihm und Francesca verwirrte sie noch mehr. Die beiden bildeten regelrecht eine Einheit. Luce musste daran denken, was Cam zu ihr gesagt hatte. Dass Daniel und er gar nicht so unterschiedlich waren. Aber Daniel und Cam auf eine Stufe zu stellen, fiel ihr schwer. In Gedanken versunken, öffnete Luce die Glastür und trat aufs Sonnendeck hinaus.
Sie blickte auf ein endloses Blau-in-Blau aus Ozean und Himmel, das sich vor ihr in Richtung Westen erstreckte. Das Wasser wirkte zwar ruhig, aber trotzdem wehte ihr ein kräftiger Wind um die Nase. Luce hielt sich an der Reling fest. Wegen der starken Sonne musste sie blinzeln und hielt deshalb schützend eine Hand vor die Augen, als sie auf Steven zuging. Francesca war nirgendwo zu sehen.
»Hallo, Luce.« Er lächelte sie an und hob kurz seinen Hut, als sie sich neben ihn stellte. Sein Gesicht war für die Jahreszeit erstaunlich braun gebrannt. »Wie geht es dir denn so?«
»Gute Frage«, sagte sie.
»Hast du dich nicht etwas überfordert gefühlt? Schließlich ist es deine erste Woche hier. Unsere kleine Demonstration mit dem Verkünder hat dich hoffentlich nicht zu sehr mitgenommen. Du musst nämlich wissen …«, er senkte verschwörerisch die Stimme, »… dass wir so was vorher noch nie gemacht haben.«
»Mitgenommen? Nein. Mir hat es gefallen«, sagte Luce hastig. »Also, ich meine, war nicht leicht, das auszuhalten. Aber auch faszinierend. Ich … ich würde da gern noch mehr wissen …«
Als Steven sie daraufhin fragend anschaute, erinnerte sich Luce an das Gespräch zwischen den beiden Lehrern und Roland, das sie belauscht hatte. Dass Steven – und nicht Francesca – dafür eingetreten war, die Verkünder in den Lehrplan aufzunehmen. »Ich möchte alles über die Verkünder wissen.«
»Alles?« Steven neigte den Kopf. Die Sonne schimmerte golden auf seiner braunen Haut. »Das könnte eine Weile dauern. Es gibt nämlich Trillionen von Verkündern, einen für fast jeden Augenblick der Geschichte. Das ist wirklich ein sehr weites Feld. Die meisten von uns wüssten überhaupt nicht, wo sie da anfangen sollten.«
»Habt ihr die Schatten deshalb nicht in den Unterrichtsstoff aufgenommen?«
»Da gehen die Meinungen weit auseinander«, sagte Steven. »Es gibt Engel, die behaupten, die Verkünder seien völlig wertlos. Oder aber dass die schlechten Dinge, von denen sie häufig künden, schwerer wögen als die guten. Sie nennen Leute wie mich verächtlich Wühlmäuse, die zu sehr auf die Vergangenheit fixiert sind, um auf die Sünden der Gegenwart zu achten.«
»Aber das ist … damit behauptet man doch, dass die Vergangenheit keinerlei Bedeutung hat.«
Wenn das wahr wäre, dann hieße das, dass alle früheren Leben von Luce für die Gegenwart vollkommen belanglos waren, dass daraus nichts folgte. Dass ihre lange gemeinsame Geschichte mit Daniel eigentlich egal war. Alles, worauf sie sich stützen konnte, waren dann ihre Erfahrungen hier und jetzt. Und wusste sie denn viel von ihm? Reichte das denn aus?
Nein. Es reichte nicht.
Sie musste daran glauben, dass hinter ihren Gefühlen für Daniel noch mehr war: eine wichtige, wertvolle, verdrängte Geschichte. Denn erst dann gab es zwischen ihnen mehr als nur die wenigen verliebten Küsse, die sie getauscht hatten, und
Weitere Kostenlose Bücher