Engelsmorgen
bis zu ihnen herunter. Die See war rau, hohe Wellen spülten lange, verknotete Fäden von Seegras, Quallen und Treibholz vor die Füße der Mädchen.
»Aber ich hab doch nichts gemacht«, murmelte Luce. Was natürlich nicht stimmte. In das eiskalte Wasser zu springen, Dawn hinterher, war sicherlich nicht nichts gewesen. Aber Steven hatte Luce – mit sehr ernstem Tonfall in der Stimme und festem Griff um ihren Arm – unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht über das Unheimliche des Vorfalls reden sollte. Deshalb traute sie sich nicht, Dawns Rettung überhaupt zu schildern.
Luce blickte auf den Schaum, den eine zurückrollende Welle auf dem nassen Sand zurückgelassen hatte. Sie zwang sich, das dunkle, tiefe Wasser dahinter aus ihrem Blickfeld zu verbannen – sie wollte jetzt nicht an die Hände in der eisigen Tiefe denken. Zu deinem eigenen Schutz. Hatte Steven nur sie allein gemeint? Oder mit ihr die ganze Schule? Wenn er nämlich nur Luce gemeint hatte …
»Dawn ist nichts geschehen«, sagte sie. »Das ist das Wichtigste.«
»Aber nur, weil du zur Stelle warst, Pamela Anderson.«
»Nenn mich nicht Pamela Anderson.«
»Hast du es lieber, wenn ich dich eine dicke, fette Betriebsnudel nenne? Die Supernova der Küstenwache?« Shelby hatte ihre eigene Art, Witze zu machen, an die man sich erst gewöhnen musste. »Frankie hat gesagt, dass gestern und vorgestern Nacht irgend so ein gruseliger Kerl auf dem Schulgelände herumgeschlichen ist. Da könntest du doch auch mal …«
»Echt?« Luce spuckte vor Schreck beinahe ihren Chai aus. »Und wer war das?«
»Ich kann nur wiederholen: Gruseliger Kerl. Mehr weiß man nicht.« Shelby setzte sich auf einen glatt gewaschenen Fels und ließ geschickt ein paar flache Steine übers Wasser hüpfen. »So ein Kerl halt. Ich hab gehört, wie Frankie mit Kramer darüber geredet hat, gestern auf der Jacht, nach dem Vorfall.«
Luce setzte sich neben Shelby und begann, im Sand nach Steinen zu suchen.
Jemand schlich auf dem Schulgelände von Shoreline herum. Was, wenn es Daniel war?
Das sähe ihm ähnlich. Dickköpfig darauf beharren, sie nicht sehen zu dürfen, aber dennoch nicht wegbleiben können. Der Gedanke an ihn bewirkte, dass sie sich noch mehr nach ihm sehnte. Sie spürte, wie ihr fast die Tränen kamen, was total verrückt war. Wahrscheinlich war der rätselhafte Unbekannte gar nicht Daniel. Es konnte Cam sein. Es konnte irgendwer sein. Es konnte ein Outcast sein.
»War Francesca deswegen beunruhigt?«, fragte sie.
»Wärst du das nicht?«, fragte Shelby zurück.
»Hey, Augenblick mal. Hast du dich etwa deswegen gestern Abend nicht rausgeschlichen?« Es war das erste Mal gewesen, dass Luce nicht irgendwann nachts aufgewacht war, weil Shelby durchs Fenster hereinkletterte.
»Nein.« Shelbys Arm war von ihren vielen Yogaübungen total durchtrainiert. Der nächste Stein prallte sechs Mal auf dem Wasser auf und beschrieb außerdem einen weiten Bogen, sodass er wie ein Bumerang fast wieder zu ihnen zurückkam.
»Wohin verschwindest du eigentlich jede Nacht?«
Shelby vergrub die Hände in die Taschen ihrer roten Daunenweste. Sie schaute so intensiv auf das Meer hinaus, dass sie dort entweder etwas entdeckt haben musste – oder ganz klar der Frage ausweichen wollte. Luce folgte ihrem Blick und war fast erleichtert, als sie bis zum Horizont nichts anderes sah als grauweiße Wellen.
»Shelby!«
»Was denn? Nichts, ich verschwinde nirgendwohin.«
Luce stand auf. Wenn Shelby ihr nichts erzählen wollte, dann eben nicht. Sie wischte sich gerade den feuchten Sand von ihren Hosenbeinen, als Shelby sie wieder auf den Felssitz zurückdrückte.
»Okay, ich bin häufig nachts verschwunden, um meinen beschissenen Freund zu treffen.« Shelby gab einen tiefen Seufzer von sich und schleuderte wütend einen Steinbrocken ins Wasser. Beinahe traf sie dabei eine dicke Möwe, die im Sturzflug nach einem Fisch tauchen wollte. »Bevor er mein beschissener Exfreund wurde.«
»Ach, Shelby. Das tut mir leid.« Luce biss sich auf die Lippe. »Ich wusste nicht mal, dass du einen Freund hattest.«
»Weil ich ihn mir auch vorher schon etwas vom Leib halten musste. Er hat sich für meinen Geschmack zu sehr dafür interessiert, dass ich eine neue Mitbewohnerin habe. Hat mich dauernd belabert, dass ich ihn doch abends mit aufs Zimmer nehmen sollte. Wollte dich unbedingt kennenlernen. Ich weiß nicht, für welchen Typ Mädchen er mich eigentlich hält. Geht nicht gegen dich, aber ich
Weitere Kostenlose Bücher