Engelsmorgen
ich extra für das Mädchen gesagt, das schon tausend Mal die Pubertät hinter sich bringen musste.« Sie verzog das Gesicht. »Einmal hat mir gereicht, vielen Dank auch!«
Das Mädchen war für Shelby also Luce. Das Mädchen, das tausend Mal die Pubertät hinter sich bringen musste. So hatte sie das noch nie betrachtet. Irgendwie war das fast schon wieder komisch: Von außen gesehen, schien das tatsächlich das Schlimmste an ihrem Schicksal zu sein. Aber natürlich war alles viel komplizierter. Luce wollte gerade sagen, dass sie mit Freuden weitere Tausend Mal die Pickel und Hormonschwankungen auf sich nehmen würde, wenn sie dafür bloß in ihre vergangenen Leben blicken und sich selber besser verstehen könnte. Doch dann sah sie zu Shelby hoch und fragte: »Wenn es nicht dein Leben war, was du da gesehen hast, wessen dann?«
»Verdammt, musst du so neugierig sein?«
Luce spürte ihr Herz schneller schlagen. »Shelby, oh mein Gott, nun rück endlich raus damit!«
»Na gut«, sagte Shelby schließlich mit einer besänftigenden Geste. »Ich war einmal auf einer Party in Corona. Es wurde dort alles ein bisschen wild, halb nackte Seancen und solches Zeugs – aber das wollte ich gar nicht erzählen. Also, ich weiß noch, dass ich dann nach draußen bin, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich wollte mal kurz um den Block gehen. Es hat geregnet und ich hab nicht viel erkennen können. Als ich dann um die Ecke bog, stand da plötzlich dieser Typ, so einer von der Sorte, die einem nur Ärger machen. Er beugte sich über eine Kugel voller Finsternis. So etwas hatte ich noch nie gesehen, sah aus wie ein Globus, glühte dunkel und schien über seinen Händen zu schweben. Der Typ weinte.«
»Und?«
»Damals hatte ich keine Ahnung, aber jetzt weiß ich, dass es sich bei der Kugel um einen Verkünder gehandelt hat.«
Luce hörte ihr gebannt zu. »Und hast du auch erkennen können, was der Typ da gesehen hat? Was für ein Gefühl war das?«
Shelby schaute Luce kurz in die Augen. Sie schluckte. »Ziemlich grausig, Luce.«
»Tut mir leid«, sagte Luce. »Ich hab nur gefragt, weil ich …«
Shelby zu gestehen, was sie ihr jetzt gestehen musste, war für Luce ein riesengroßer Schritt. Francesca wäre bestimmt dagegen. Aber Luce brauchte Antworten und sie brauchte Hilfe. Shelbys Hilfe.
»Ich muss unbedingt was über meine früheren Leben erfahren«, sagte Luce. »Zumindest muss ich es versuchen. In der letzten Zeit sind da so ein paar Dinge passiert, die ich einfach hinnehmen muss, weil ich es nicht besser weiß – aber wenn ich mehr wüsste, wenn ich wirklich eine Ahnung von meiner Vergangenheit hätte, dann könnte ich damit wahrscheinlich besser umgehen. Ich will wissen, wo ich herkomme. Wer ich früher war. Verstehst du das?«
Shelby nickte.
»Ich muss wissen, was in meinen früheren Leben zwischen mir und Daniel passiert ist, damit ich mir sicherer bin, was jetzt zwischen uns ist.« Luce holte tief Luft. »Dieser Typ auf der Straße … hast du sehen können, was er mit dem Verkünder angestellt hat?«
Shelby zuckte mit den Schultern. »Er hat die Kugel nur irgendwie in Form gebracht. Ich wusste damals überhaupt nicht, was das war, und ich weiß auch nicht, wie er zu dem Ding gekommen ist. Deshalb hat mich die Vorführung von Francesca und Steven ja auch so erwischt. Ich hab das damals gesehen und es seither verdrängt. Aber ehrlich, ich hatte damals keine Ahnung, dass es sich um einen Verkünder handelte.«
»Wenn es dir gelänge, einen Verkünder einzufangen, könntest du ihm dann seine Botschaft entlocken?«
»Keine Ahnung«, sagte Shelby, »kann ich nicht versprechen. Aber einen Versuch ist es wert. Weißt du denn, wie man sie jagt?«
»Kann doch nicht so schwer sein, oder? Jedenfalls verfolgen sie mich schon mein ganzes Leben.«
Shelby legte ihre Hand auf die von Luce. »Ich will dir ja gern helfen, Luce, aber das ist alles irgendwie so unheimlich. Ich hab richtig Angst. Wenn du nun etwas siehst, was du gar nicht sehen sollst, du weißt schon?«
»Als du mit deinem Freund Schluss gemacht hast, Shelby …«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich …«
»Jetzt hör doch zu: Egal was alles zwischen euch war … ist es dir nicht lieber, das alles jetzt schon herauszufinden? Also ich meine, wie sagt man immer so schön, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende? Stell dir vor, ihr hättet euch verlobt oder so was, und erst dann hättest du –«
»Blödsinn!« Shelby hob die Hand, um Luce zu
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