Engelsmorgen
Jacht drängten sich jetzt die Schüler an der Reling, zeigten ins Wasser, riefen Luce etwas zu. Aber sie durfte nicht auf sie achten, musste sich ganz auf ihre Suche nach Dawn konzentrieren.
Luce glaubte, einen dunklen Fleck in den Wellen zu erkennen. Dawns Kopf. Sie schwamm mit kräftigen Stößen darauf zu. Ihr Fuß streifte etwas – eine Hand? –, doch im nächsten Moment war es weg, und sie war sich nicht mehr sicher, ob es sich bei dem Fleck überhaupt um Dawn gehandelt hatte.
Luce konnte nicht hinuntertauchen, solange sie sich am Rettungsring festhielt. Aber eine schlimme Ahnung sagte ihr, dass Dawn bereits immer tiefer nach unten sank. Sie wusste, dass sie den Rettungsring besser nicht losließ. Doch sie konnte Dawn nur retten, wenn sie es tat.
Also stieß sie den Rettungsring weg, schnappte noch einmal nach Luft und tauchte dann in die Tiefe, bis das Wasser so kalt wurde, dass es wehtat. Sie konnte nichts sehen, griff nur blind um sich und hoffte, Dawn noch zu erwischen, bevor es zu spät war.
Zuerst berührte sie Dawns Haare. Dawns halb lange, dünne Haare. Luce fuhr mit ihrer Hand weiter und berührte die Wange ihrer Freundin, ihren Hals, ihre Schulter. Dawn war in kurzer Zeit ziemlich tief gesunken. Luce griff mit den Armen unter Dawns Achselhöhlen und stieß sich dann mit aller Kraft nach oben, paddelte verzweifelt mit den Beinen.
Sie waren noch weit von der Wasseroberfläche entfernt, wo das Tageslicht hell schimmerte.
Und Dawn war viel schwerer, als sie eigentlich sein konnte. Wie ein großes, schweres Gewicht hing sie an Luce und zog sie beide in die Tiefe.
Endlich tauchten sie aus dem Wasser auf. Dawn hustete und spuckte Wasser. Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Haare klebten ihr auf der Stirn. Luce legte einen Arm um Dawns Brust und strampelte mit ihr mühsam zum Rettungsring.
»Luce«, flüsterte Dawn, »was ist passiert?« Im Lärm der Wellen konnte Luce sie nicht hören, aber sie konnte ihre Lippenbewegungen lesen.
»Ich weiß nicht.« Luce schüttelte unmerklich den Kopf. Mit aller Kraft kämpfte sie darum, sie beide über Wasser zu halten.
»Schwimmt zum Rettungsboot!«, rief eine Stimme. Aber noch irgendwohin zu schwimmen, war unmöglich. Sie schafften es beide kaum, den Kopf über Wasser zu halten.
Ein aufblasbares Rettungsboot wurde ins Wasser gelassen, in dem Steven saß. Sobald das Boot auf den Wellen war, ruderte er hastig auf sie zu. Luce schloss erleichtert die Augen, als die nächste Welle über sie hinwegschwappte. Wenn sie nur noch etwas länger durchhielt, würde alles gut werden.
»Gib mir deine Hand«, rief Steven. Luces Beine fühlten sich so schwer und müde an, als wäre sie eine Stunde lang geschwommen. Sie schob Dawn zu Steven hin, damit er sie als Erste aus dem Wasser zog.
Steven hatte die Jacke ausgezogen und das weiße Hemd klebte ihm nass an der Brust. Mit auf einmal riesengroß wirkenden, muskulösen Armen hievte er Dawn ins Boot. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Sobald er Dawn so weit über die Bootskante gezogen hatte, dass sie nicht mehr ins Wasser zurückrutschen konnte, drehte er sich wieder um und griff schnell nach Luces Hand.
Luce fühlte sich federleicht, als sie mit seiner Hilfe fast aus dem Wasser sprang. Als sie ins Boot glitt, merkte sie erst, wie eiskalt ihr war.
Am ganzen Körper. Nur nicht da, wo Stevens Finger sie berührt hatten.
Dort verdampfte das Wasser auf ihrer Haut.
Sie setzte sich auf, um Steven dabei zu helfen, die schlotternde Dawn ganz ins Boot zu ziehen. Dawn war so erschöpft, dass sie dabei selbst nicht mithelfen konnte. Luce und Steven fassten sie jeder an einem Arm. Sie hatten Dawn fast ganz ins Boot gezogen, als Luce spürte, wie Dawn auf einmal mit einem heftigen Ruck wieder ins Wasser zurückgezerrt wurde.
Dawns dunkle Augen weiteten sich vor Schreck, und sie schrie laut, als sie wieder ins Wasser rutschte. Luce wurde davon völlig überrascht, Dawns nasser Arm entglitt ihrer Hand und Luce selbst fiel rückwärts ins Boot.
»Halt!«, rief Steven und umfasste gerade noch rechtzeitig Dawns Taille. Er war hastig aufgestanden, was das Boot beinahe zum Kentern brachte. Als er danach ansetzte, Dawn wieder herauszuziehen, bemerkte Luce für einen Augenblick etwas Goldenes hinter seinem Rücken aufblitzen.
Seine Flügel.
Wie sie da in dem Moment herauswuchsen, als Steven die meiste Kraft brauchte … Luce hatte den Eindruck, dass es fast gegen seinen Willen geschah. Die Schwingen glänzten wie teure Juwelen,
Weitere Kostenlose Bücher