Engelsmorgen
unterbrechen. »Aber ich hab’s kapiert. Dann lass uns mal los, einen Schatten für dich auftreiben.«
Luce ging mit Shelby den Strand entlang zurück und dann die steilen Stufen im Fels hoch, wo sich kleine Büschel roter und gelber Verbenen angesiedelt hatten. Sie überquerten den Rasen und machten dabei einen Bogen um eine Gruppe von Nicht-Nephilim-Schülern, die gerade Ultimate Frisbee spielten. Das Wohnheim mit ihrem Zimmerfenster im dritten Stock beachteten sie nicht weiter und bogen dahinter ab. Als sie am Rand des Mammutbaumwalds angekommen waren, zeigte Luce auf zwei Bäume. »Dort habe ich das letzte Mal einen gefunden.«
Shelby marschierte voran, schob sich zwischen den langfingrigen Blättern des Weinblattahorns hindurch, an den Stämmen von Mammutbäumen vorbei und hielt schließlich unter einem riesigen Farn an.
Im Wald herrschte Finsternis, und Luce war froh, Shelby dabeizuhaben. Sie erinnerte sich an ihr Erlebnis vor ein paar Tagen. Wie schnell da die Zeit vergangen war, als sie den Schatten jagte. Aber sie hatte ihm keine Botschaft entreißen können. Plötzlich war sie ganz mutlos.
»Falls es uns wirklich gelingt, einen Verkünder einzufangen«, sagte sie, »und falls wir es auch wirklich schaffen sollten, einen Blick in sein Innenleben zu werfen, wie groß ist da wohl die Chance, dass er mir etwas über Daniel und mich zu erzählen hat? Und wenn wir nur so eine grässliche Szene aus der Bibel erwischen, so wie das, was wir im Unterricht gesehen haben?«
Shelby schüttelte den Kopf. »Ob’s was mit Daniel zu tun hat, das weiß ich auch nicht. Aber wenn wir einen Verkünder erwischen und dann auch noch einen Blick in ihn werfen können, dann wird seine Botschaft mit dir zu tun haben. Sie haben nämlich immer mit der Person zu tun, die sie fängt – ob man ihre Botschaft nun hören will oder nicht. Mach dich also darauf gefasst, dass du damit gemeint sein wirst.«
»Aber wie kann das sein? Das würde ja bedeuten, dass Francesca und Steven etwas mit der Zerstörung von Sodom und Gomorrha zu tun hatten.«
»Na ja, warum nicht? Die beiden treiben sich schließlich schon sehr lange überall rum. Ihre Lebensläufe sollen echt beeindruckend sein.« Shelby schielte Luce seltsam an. »Jetzt schalt mal ein bisschen deinen Kopf ein. Was glaubst du wohl, warum sie die Jobs hier in Shoreline gekriegt haben? Das ist eine sehr gute Schule.«
Etwas Dunkles und Flatteriges bewegte sich über ihren Köpfen: der wehende Mantel eines Verkünders, der sich schläfrig im Schatten des Asts eines Mammutbaums wiegte.
»Da!«, flüsterte Luce und verlor keine Zeit. Sie schwang sich auf einen Ast hinter Shelby, balancierte auf einem Fuß und streckte sich, so weit sie konnte; trotzdem konnte sie den Verkünder nur mit den Fingerspitzen berühren. »Ich erwische ihn nicht.«
Shelby hob einen Kiefernzapfen auf und zielte damit auf die Mitte des Schattens, genau auf die Stelle, wo er über dem Ast hing.
»Nicht!«, flüsterte Luce. »Du verärgerst ihn!«
»Was meinst du, was der mich ärgert! So ein affektiertes Getue! Streck einfach weiter deine Hand aus.«
Luce tat, was sie sagte.
Sie beobachtete, wie der Kiefernzapfen von dem Schatten abprallte und hörte dann das leise, schmatzende Geräusch, das sie früher immer mit solcher Furcht erfüllt hatte. Die eine Seite des Schattens glitt langsam, sehr langsam vom Ast. Schließlich löste er sich ganz davon und landete auf Luces zitternder Hand. Sie krallte ihre Finger hinein.
Dann sprang sie von dem Ast, auf dem sie stand, und ging auf Shelby zu. Sie reichte ihr das kalte, moderige Geschenk.
»Okay«, sagte Shelby. »Ich halte jetzt an der einen Seite und du an der anderen, wie wir es im Unterricht gesehen haben. Igitt, ist das glitschig. Dann lass uns mal … Du musst deine Finger nicht so reinbohren, er gleitet dir nicht davon. Entspannt euch beide mal und dann lass ihn Form annehmen.«
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor mit dem Schatten überhaupt irgendwas passierte. Luce fühlte sich an ihre Kindheit erinnert, wenn sie vor dem Hexenbrett saß und auf eine Reaktion der Geister wartete. An ihren Fingerspitzen spürte sie jetzt eine unerklärliche Energie. Dann das Gefühl einer anhaltenden, leichten Bewegung, lange bevor sie irgendwelche Veränderungen in der Gestalt des Verkünders bemerken konnte.
Und schließlich ein Zischen. Der Schatten zog sich zusammen und faltete sich langsam ineinander. Bald hatte er die Größe und Form einer größeren
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