machten einen Abendspaziergang durch den gepflegten Rosengarten. Luce musterte alle aufmerksam, ob sie das Ehepaar vielleicht irgendwo entdeckte, aber niemand kam ihr bekannt vor. Besser, sie ging direkt zu ihrem Haus.
Als sie sich dem Bungalow näherte, konnte sie erkennen, dass darin Licht brannte. Sie ging noch näher, bis sie durchs Fenster blicken konnte.
Es war unheimlich: derselbe Raum, den sie schon gesehen hatte. Bis hin zu dem fetten weißen Hund, der auf dem Teppich schlief. Sie konnte hören, dass in der Küche abgespült wurde. Sie konnte die braunen Socken und dünnen Knöchel des Mannes sehen, der vor vielen, vielen Jahren ihr Vater gewesen war.
Aber er fühlte sich nicht wie ihr Vater an. Er sah nicht wie ihr Vater aus und die Frau hatte auch nicht wie ihre Mutter ausgesehen. An den beiden war überhaupt nichts falsch. Sie wirkten total nett. Wie total nette … Fremde. Wenn sie jetzt bei ihnen klingelte und ihnen irgendetwas über Autowaschshampoo vorlog, würden sie ihr dadurch weniger fremd werden?
Nein, beschloss sie. Doch das war noch nicht alles. Denn sie erkannte ihre Eltern zwar nicht, aber wenn es wirklich ihre Eltern waren, würden sie natürlich sie erkennen.
Luce kam sich unglaublich dumm vor, dass sie daran vorher noch nicht gedacht hatte. Sie würden einen einzigen Blick auf sie werfen und sofort wissen, dass sie ihre Tochter war. Ihre Eltern waren viel älter als die meisten anderen Senioren, die sie in der Wohnanlage gesehen hatte. Der Schock wäre wahrscheinlich zu viel für sie. Schon Luce konnte das alles kaum verarbeiten und das alte Ehepaar hatte ihr mindestens siebzig Jahre voraus.
Sie kauerte hinter einem stachligen Kaktus und presste das Gesicht gegen das Wohnzimmerfenster. Wenn die Tochter dieses alten Ehepaars mit siebzehn gestorben war, dann hatten sie inzwischen über fünfzig Jahre um sie getrauert. Sie mussten sich inzwischen mit dem Schicksal ausgesöhnt haben. Sie hatten ihren Frieden gefunden. Oder? Dass Luce jetzt auf einmal uneingeladen hinter einem Kaktus hervor auftauchte, brauchten sie nun wirklich nicht.
Shelby würde enttäuscht sein. Luce selber war auch maßlos enttäuscht. Nie würde sie ihren früheren Eltern näher kommen können als jetzt. Mit beiden Händen umklammerte sie das Fensterbrett des Bungalows, in dem die beiden alten Leute lebten, und die Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie wusste noch nicht einmal die Namen ihrer Mutter und ihres Vaters.
Acht
Elf Tage
An:
[email protected] Von:
[email protected] Gesendet: Montag, 15.11., 9.49
Thema: Viele Grüße
Liebe Mom, lieber Dad,
tut mir leid, dass ihr so lange nichts von mir gehört habt. Wir müssen viel für die Schule lernen, aber ich fühle mich hier wohl und es macht mir alles viel Spaß. Mein Lieblingsfach ist zurzeit Geschichte. Im Augenblick schreibe ich gerade an einer Hausarbeit, für die es zusätzliche Punkte gibt. Das frisst ganz schön viel Zeit. Ich vermisse euch sehr und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Danke, dass ihr so großartige Eltern seid. Ich glaub, das kann ich euch gar nicht oft genug sagen.
Alles Liebe, Luce
Luce klickte auf »Senden« und wechselte dann schnell zu Francescas Online-Präsentation zurück. An einer Schule zu sein, wo einfach jeder einen Laptop ausgehändigt bekam, komplett mit WLAN -Anschluss und allem, daran hatte Luce sich immer noch nicht gewöhnt. In Sword & Cross hatte es insgesamt nur sieben Computer für sämtliche Schüler gegeben, alle fest in der Bibliothek installiert. Und selbst wenn man es geschafft hatte, das verschlüsselte Passwort für den Internetzugang herauszubekommen, um sich auch außerhalb des Unterrichts einloggen zu können, hatte man nichts davon. Fast alle Websites waren gesperrt. Man konnte nur langweilige wissenschaftliche Recherchen durchführen.
Die E-Mail an ihre Eltern hatte sie aus einem Schuldgefühl heraus geschrieben. Am Abend vorher hatte sie sich nämlich auf einmal gefühlt, als würde sie ihre echten Eltern verraten, weil sie mit Shelby zu dieser Seniorenresidenz in Mount Shasta gefahren war. Als hätte sie damit ihren echten Eltern unrecht getan, die sie in diesem Leben hier großgezogen hatten. Natürlich waren die anderen Eltern auf ihre Weise auch echt. Aber dieser Gedanke war für Luce immer noch so befremdlich, dass sie ihn nicht wirklich an sich heranlassen konnte.
Shelby war kein bisschen verärgert gewesen, dass sie vollkommen sinnlos mit ihr die ganze Strecke bis nach Mount