Engelsmorgen
Shasta gefahren war. Dabei hätte sie alles Recht dazu gehabt. Sie ließ einfach den Motor an und fuhr mit Luce zum nächsten In-N-Out-Burger, wo sie sich beide gegrillte Käsesandwiches mit Spezialsoße gönnten.
»Grübel nicht mehr drüber nach«, sagte Shelby, nachdem sie sich den Mund mit einer Serviette abgewischt hatte. »Hast du eine Ahnung, wie viele Panikattacken ich meiner vermurksten Familie schon zu verdanken habe? Glaub mir, ich bin die Letzte, die dich deswegen verurteilen würde.«
Luce blickte quer durchs Klassenzimmer zu Shelby und verspürte große Dankbarkeit gegenüber ihrer Zimmergenossin. Dabei hatten sie sich noch vor einer Woche überhaupt nicht ausstehen können. Ihre dicke blonde Mähne hatte Shelby an diesem Vormittag mit einem Frotteestirnband gebändigt. Aufmerksam hörte sie Francesca zu und machte sich Notizen.
Auf allen Bildschirmen ringsum, wie Luce aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte, war die PowerPoint-Präsentation aufgerufen, die Francesca ihnen im Schneckentempo vorführte. Auch bei Dawn, die heute Vormittag besonders girliemäßig-süß aussah, mit einem leuchtendrosa T-Shirt-Kleid und einem auf der Seite wippenden Pferdeschwanz. Hatte sie sich wirklich schon so schnell von dem Zwischenfall beim Jachtausflug erholt? Oder überdeckte sie damit den Horror, den sie dabei empfunden haben musste – und immer noch empfand?
Als Luce zu Rolands Bildschirm hinüberschielte, glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen. Ihr ehemaliger Mitschüler aus Sword & Cross hatte sich nach seiner großen Party erst mal verdrückt, was sie nicht besonders gewundert hatte. Aber als er jetzt im Unterricht aufgetaucht war, machte er brav alles mit, was von ihm verlangt wurde. Das erstaunte Luce doch etwas.
Immerhin tat Roland nicht so, als ob ihn der Vortrag zu »Karrierechancen für Nephilim: Wie deine besonderen Begabungen dich beflügeln können« rasend interessieren würde. Im Gegenteil, seiner Miene nach zu schließen, musste er davon ziemlich enttäuscht sein. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen und er schüttelte immer wieder den Kopf. Seltsam war auch, dass Francesca jedes Mal, wenn sie die Schüler alle einzeln anblickte, Roland immer übersprang.
Luce klickte den Shoreline-Chatroom an, ihr virtuelles Klassenzimmer, um zu sehen, ob Roland sich vielleicht eingeloggt hatte. Dort konnten sie sich während des Unterrichts miteinander austauschen – aber was Luce Roland da fragen wollte, hatte nichts mit dem Unterrichtsstoff zu tun. Roland wusste irgendetwas, jedenfalls mehr, als er ihr an jenem Nachmittag hatte erzählen wollen, und bestimmt hatte es mit Daniel zu tun. Außerdem wollte sie von ihm wissen, wo er am Samstag gewesen war. Und ob er von Dawns Sturz über Bord gehört hatte.
Nur dass Roland nicht eingeloggt war. Die einzige andere Person im Chatroom war Miles. Auf ihrem Schirm poppte eine Textbox mit seinem Namen auf:
Halloooo da drüben!
Miles saß direkt neben ihr. Luce konnte ihn kichern hören. War ja eigentlich süß, dass er sich über seine eigenen plumpen Witze so amüsieren konnte. Genau diese Art von unbekümmertem, witzelndem Umgang hätte sie sich mit Daniel gewünscht. Wenn Daniel nicht immer mit seinen Gedanken woanders gewesen wäre. Wenn er überhaupt bei ihr gewesen wäre.
Aber das war er nicht.
Luce schrieb zurück: Und wie ist bei dir das Wetter?
Gerade geht die Sonne auf, tippte er, immer noch lächelnd. Hey, wo warst du eigentlich gestern? Ich hab bei euch vorbeigeschaut, weil ich eigentlich mit dir zum Abendessen wollte.
Luce blickte von ihrem Computer hoch und schaute Miles in die blauen Augen. Er sah sie mit solcher Zuneigung an, dass sie ihm am liebsten sofort ihr Herz ausgeschüttet hätte. Ihm konnte sie alles erzählen. Bei dem Frühstück damals hatte er sich großartig verhalten und geduldig zugehört, was sie ihm alles von Sword & Cross berichtete. Aber im Klassen-Chatroom konnte sie ihm seine Frage unmöglich beantworten. Und so gern sie ihm auch alles erzählt hätte, sie war sich trotzdem nicht ganz sicher, ob sie das wirklich tun sollte. Sie würde auch so schon genug Ärger mit Steven und Francesca kriegen, und dass sie bereits Shelby da mitreingezogen hatte, reichte mehr als genug.
Miles’ Gesichtsausdruck wandelte sich. Er lächelte jetzt nicht mehr, sondern blickte merkwürdig verlegen drein. Luce gab es einen Stich, als sie ihn so sah, und gleichzeitig war sie auch etwas überrascht, dass sie in ihm eine solche Reaktion
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