Engelsmorgen
hervorrufen konnte.
Francesca stellte den Projektor aus. Als sie die Arme vor der Brust verschränkte, blitzten die Ärmel ihrer rosafarbenen Seidenbluse unter ihrem knappen Lederjäckchen hervor. Erst jetzt fiel Luce auf, wie sehr Steven sich den ganzen Vormittag zurückgehalten hatte. Er saß auf dem Fensterbrett und hatte bisher kaum ein Wort gesagt.
»Nun wollen wir mal sehen, ob ihr gut aufgepasst habt«, sagte Francesca und lächelte in die Klasse. »Ich schlage vor, dass ihr Zweiergruppen bildet und euch gegenseitig interviewt.«
Luce hörte das Stühlerücken ringsum und seufzte. Sie hatte so gut wie überhaupt nichts von Francescas Vortrag mitgekriegt und deshalb auch keine Ahnung, was sie jetzt machen sollten.
Nur eines wusste sie, nämlich dass sie nur vorübergehend hier in Shoreline war. War es da von den Lehrern zu viel verlangt, diese Sonderstellung zu berücksichtigen und von ihr nicht dasselbe zu fordern wie vom Rest der Schüler?
Miles tippte auf ihren Computerschirm, wo er ihr geschrieben hatte: Wie wär’s mit uns zwei? In dem Moment tauchte Shelby auf.
»Ich bin für die CIA oder Ärzte ohne Grenzen«, sagte sie und machte Miles ein Zeichen, dass er das Feld räumen sollte. Miles rührte sich nicht vom Fleck. »Ich werde mich jedenfalls in einem blöden Rollenspiel nicht für eine langweilige Stelle als Prophylaxeassistentin bewerben.«
Luce blickte zwischen Shelby und Miles hin und her. Beide schienen einen Anspruch auf sie anzumelden, was ihr so krass bisher noch gar nicht aufgefallen war. Wenn sie ehrlich war, würde sie lieber mit Miles eine Zweiergruppe bilden. Sie hatte ihn seit Samstag nicht mehr gesehen. Irgendwie hatte er ihr gefehlt. Auf rein freundschaftlicher Ebene. So wie man zu jemandem sagt: Hey, lass uns doch mal wieder einen Kaffee miteinander trinken. Nicht weil sie gedacht hätte: Lass uns bei Sonnenuntergang am Strand entlangspazieren, damit du mich aus deinen unglaublich blauen Augen anlächeln kannst. Luce war mit Daniel zusammen, da machte sie sich über andere Jungs nicht groß Gedanken. Und schon gar nicht errötete sie mitten im Unterricht, weil sie sich jetzt ermahnen musste, an keinen anderen Jungen zu denken. Weil sie ja mit Daniel zusammen war.
»Bei euch alles in Ordnung?« Steven legte seine braun gebrannte Hand auf Luces Pult und blickte sie fragend an, mit einem Du-kannst-mir-alles-sagen-Blick aus seinen großen braunen Augen.
Aber Luce fühlte sich in seiner Gegenwart nervös, was mit ihrem gemeinsamen Erlebnis im Rettungsboot zu tun hatte. Steven hatte ihr und Dawn verboten, über den Vorfall zu reden, und Luce hielt sich daran. So ängstlich, dass sie noch nicht einmal mit Dawn darüber gesprochen hatte.
»Alles bestens«, antwortete Shelby. Sie nahm Luce am Ellenbogen und schob sie auf die Terrasse hinaus, wo schon ein paar andere Schüler waren und Bewerbungsgespräche übten. »Luce und ich wollten uns gerade optimale Lebensläufe ausdenken.«
Francesca tauchte hinter Steven auf. »Jasmine braucht noch einen Partner«, sagte sie zu Miles. »Setz dich doch zu ihr.«
Ein paar Tische weiter verkündete Jasmine laut: »Dawn und ich konnten uns nicht darauf einigen, wer das Indie-Starlet und wer den Casting-Direktor spielen sollte. Deshalb …«, ihre Stimme wurde eine Oktav tiefer, »… hat sie mich jetzt sitzen lassen und betrügt mich mit Roland.«
Miles blickte enttäuscht drein. »Casting-Direktor«, murmelte er. »Vielleicht ist das ja meine neue Berufung.« Er machte sich missmutig zu Jasmine auf. Luce sah ihm nach.
Somit war die Situation also geklärt und Francesca winkte Steven nach vorne zu den Lehrerpulten. Aber auch als Steven fortging, hatte Luce das Gefühl, dass er sie weiter beobachtete.
Sie blickte unauffällig auf ihr Handy. Callie hatte ihr immer noch nicht geantwortet. Das sah ihr gar nicht ähnlich und Luce gab sich selbst die Schuld daran. Vielleicht war es für sie beide besser, wenn Luce sich eine Weile ganz zurückzog. Es würde ja nicht mehr lange dauern.
Sie folgte Shelby nach draußen auf die Terrasse und setzte sich neben sie auf die Holzbank, die dort am Geländer entlang verlief. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne schien, aber sie fanden nur noch im Schatten Platz, wo ein hoher Mammutbaum seine Äste über sie breitete. Überall sonst hatten sich schon andere Schüler niedergelassen. Luce fegte mit der Hand die dunkelgrünen Nadeln beiseite und zog den Reißverschluss ihres dicken Sweaters hoch.
»Du
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