Engelsmorgen
Schachtel angenommen. Er schwebte jetzt über ihren Fingerspitzen.
»Hast du das gesehen?«, fragte Shelby atemlos. Bei dem zischenden Geräusch des Schattens war ihre Stimme fast unhörbar. »Da, in der Mitte.«
Wie bei der Vorführung in der Klasse schien sich ein dunkler Schleier von dem Verkünder zu heben. Mit einem Mal platzte darunter Farbe hervor. Luce hielt schützend die Hand vor Augen, bis das grelle Licht allmählich wieder in den Schattenschirm zurückgeflossen war. Ein verschwommenes Bild war dort zu sehen. Dann wurden die Umrisse schärfer, die Farben gedämpfter.
Sie blickten in ein Wohnzimmer. Die Rückseite eines verstellbaren Sessels mit blauem Karoüberzug und ausgeklapptem Fußteil, der Stoff schon ziemlich abgenutzt. Ein altes Fernsehgerät mit Holzfurnier, es wurde gerade eine Wiederholung von Mork von Ork gesendet, mit abgestelltem Ton. Auf einem runden Patchworkteppich hatte sich ein Jack-Russell-Terrier zusammengerollt.
Luce sah, wie eine Schwingtür aufgestoßen wurde, hinter der sich wohl die Küche befand. Eine Frau, älter, als ihre Großmutter geworden war, kam ins Zimmer. Sie hatte ein rosa-weiß gemustertes Kleid und Tennisschuhe mit dicker Sohle an. Um ihren Hals hing eine Brille mit dicken Gläsern. Sie trug einen Teller mit geschältem, geschnittenem Obst.
»Wer ist sie?«, dachte Luce laut.
Als die alte Frau den Teller auf dem Couchtisch abgestellt hatte, streckte sich vom Sessel eine Hand aus und griff nach einem Stück Banane.
Luce beugte sich vor, um alles genau mitzubekommen, und da merkte sie, dass sich der Raum mit ihrer Blickrichtung drehte. Der alte Mann im Sessel war ihr vorher noch gar nicht aufgefallen. Er wirkte gebrechlich und hatte spärliches weißes Haar. Seine Haut war voller Altersflecken. Sein Mund bewegte sich, aber Luce konnte nicht hören, was er sagte. Über dem Kamin hingen mehrere gerahmte Fotografien.
Das Zischen in Luces Ohren wurde immer lauter, so laut, dass sie wimmerte. Ohne etwas anderes getan zu haben, als sich zu fragen, was auf diesen Fotos wohl zu sehen war, zoomte eine Kamera darauf zu. Luce wurde fast schwindlig dabei – dann hatte sie eines der gerahmten Bilder in extremer Nahaufnahme vor Augen.
Ein schmaler vergoldeter Rahmen, ein leicht angelaufenes Glas. Darunter ein angegilbtes Schwarzweißfoto mit einem weißen Zierrand. Darauf zwei Gesichter: ihr eigenes und das von Daniel.
Luce hielt den Atem an. Aufmerksam betrachtete sie ihr Gesicht, das ein klein wenig jünger wirkte als sie jetzt. Die schulterlangen, dunklen Haare waren zu Löckchen gedreht. Weiße Bluse mit Bubikragen. Weiter Glockenrock, der ihr bis zu den Waden reichte. Weiße Handschuhe. Händchen haltend mit Daniel. Er schaute ihr in die Augen, lächelte sie an.
Der Verkünder fing an zu vibrieren, bebte dann immer stärker. Das Bild im Innern löste sich in gezackte Streifen auf und verschwand.
»Nein«, schrie Luce. Am liebsten wäre sie mit einem Satz in den Schatten hinein verschwunden. Ihre Stirn berührte den Schirm, weiter kam sie nicht. Sie spürte, wie von dort Eiseskälte in sie eindrang. Schauder liefen ihr über den Rücken. Finger umklammerten ihr Handgelenk.
»Komm bloß nicht auf dumme Ideen«, warnte Shelby.
Zu spät.
Der Schirm hatte sich verfinstert. Der Verkünder glitt aus ihren Händen, fiel auf den Waldboden und zerbarst dort in Tausend Splitter. Wie zerbrochenes schwarzes Glas. Luce stöhnte auf. Sie keuchte und musste ein Schluchzen unterdrücken. Sie fühlte sich, als wäre ein Teil von ihr gestorben.
Dann sank sie auf alle viere, presste die Stirn auf die Erde, ließ sich ganz fallen und rollte sich auf dem Boden zusammen. Es war kälter und düsterer als noch vor einer Weile. Sie sah auf die Uhr. Schon zwei Uhr vorbei. Aber es war Vormittag gewesen, als sie den Wald betreten hatten. Als Luce den Kopf hob, um in Richtung Wohnheim zu blicken, hatte sich das Licht hinter den Bäumen verändert. Die Verkünder schluckten die Zeit.
Shelby legte sich neben sie. »Alles okay?«
»Ich – ich bin total durcheinander. Diese Leute …« Luce legte die Hand auf die Stirn. »Ich habe keine Ahnung, wer sie sind.«
Shelby räusperte sich. Sie wirkte etwas verlegen. »Glaubst du nicht, ähm, dass du sie vielleicht früher einmal gekannt hast? Vor langer Zeit, meine ich. Vielleicht waren es ja deine Elt…«
»Du meinst wirklich, dass …«
»Sag bloß, du bist echt nicht auf die Idee gekommen, dass das vielleicht deine Eltern sind? Aus einem
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