Engelsmorgen
behaupten, dass es wirklich Spaß gemacht hat. Blutrünstige Monster. Sie sind hinter dir her, musst du wissen. Hat sich bereits rumgesprochen, dass du hier bist. Und dass du ganz gerne mal unbeaufsichtigt im Wald herumspazierst.« Er deutete zu dem Wald hinter dem Wohnheim.
»Du hast sie gerade getötet?« Luce blickte ihn voller Abscheu an und spähte dann hoch zur Terrasse, ob Shelby oder irgendjemand sonst sie hier unten mit Cam sehen konnte. Nein.
»Ein paar von ihnen, ja, gerade eben, mit meinen eigenen Händen.« Cam zeigte ihr seine Handflächen, die mit einer zähklebrigen roten Masse bedeckt waren. Luce konnte gar nicht hinschauen. »Natürlich sind Waldspaziergänge wunderschön, Luce, aber auch gefährlich. Die Wälder stecken voller Wesen, die dich lieber tot als lebendig sehen wollen. Deshalb tu mir einen Gefallen und …«
»Nein. Du bist der Letzte, dem ich einen Gefallen tun würde. Alles an dir kotzt mich an.«
»Na gut.« Cam verdrehte die Augen. »Dann tu’s für Grigori. Aber geh nicht in den Wald hinein. Und bleib schön brav auf dem Schulgelände.« Er trat seine Zigarette im Gras aus, ließ die Schultern kreisen und entfaltete seine Schwingen. »Ich kann nicht dauernd hier auf dich aufpassen. Und bei Gott, Grigori erst recht nicht.«
Cams Flügel waren hoch und schmal und eng an seinen Schultern festgezurrt. Die glänzenden goldenen Federn waren schwarz gesprenkelt. Luce wünschte, sie hätte die Flügel abstoßend gefunden, aber so war es nicht. Wie Stevens Schwingen waren sie an den Rändern ausgefranst und zerzaust – sie wirkten, als hätten sie schon viele Kämpfe hinter sich. Die schwarzen Einsprengsel verliehen ihnen etwas Düsteres, aber auch Sinnliches. Sie übten auf Luce eine magnetische Anziehungskraft aus.
Nein. Sie hasste alles an Cam. Für immer und ewig.
Cam schlug einmal mit seinen Flügeln und seine Füße hoben sich vom Boden. Das Geräusch, das sie machten, tönte fürchterlich laut in Luces Ohren, und ihre Bewegung erzeugte einen Windstoß, der die Blätter vom Boden aufwirbelte.
»Danke«, brachte Luce mühsam hervor, bevor er losflog. Dann war er auch schon zwischen den hohen Mammutbäumen verschwunden.
Cam passte jetzt auf sie auf? Hier? Und wo war Daniel? Hatten sie nicht gesagt, dass Shoreline ein sicherer Ort war?
Kaum war Cam fort, als der Verkünder – der Grund, weshalb Luce überhaupt die Treppe heruntergekommen war – sich wie ein schwarzer Wirbelwind aus dem Schatten erhob, in dem er sich versteckt hatte.
Er kam näher. Noch näher.
Schließlich schwebte er über Luces Kopf.
»Shelby«, rief Luce leise. »Komm herunter.«
Shelby beugte sich über das Geländer hinab. Sah den Verkünder als schwarze bedrohliche Wolke über Luce hängen. »Hat ja ganz schön lang gedauert«, meinte sie und sprintete dann die Treppe hinunter. Um im selben Moment mitzuerleben, wie der riesige Schatten herunterfiel.
Direkt in Luces Arme.
Luce schrie auf – aber zum Glück legte Shelby ihr die Hand auf den Mund.
»Danke«, presste Luce zwischen Shelbys Fingern hervor.
Beide standen am Fuß der Treppe, sodass jeder sie sehen konnte, der zufällig auf dieser Seite der Terrasse nach unten blickte. Luce war vom Gewicht des Schattens in die Knie gegangen. Noch nie hatte sie mit einem so schweren und kalten Schatten zu tun gehabt. Er war nicht tiefschwarz wie alle anderen, die sie bisher gesehen hatte, sondern von einem ekelerregenden Graugrün. Hin und wieder zuckte ein Blitz durch ihn hindurch, dann schlängelte und wand er sich.
»Ich hab dabei kein gutes Gefühl«, sagte Shelby.
»Mach schon«, flüsterte Luce. »Ich hab ihn gefangen. Jetzt bist du an der Reihe. Er soll uns seine Botschaft verkünden.«
»Ich an der Reihe? Wer sagt das denn? Du hast mich hier runtergerufen, aber ansonsten lautet meine Antwort: ohne mich.« Shelby hob abwehrend die Hände, um klarzumachen, dass sie keinesfalls das widerliche Etwas in Luces Armen berühren würde. »Ich hab gesagt, dass ich dir helfen werde, wenn du noch andere Verwandte von dir ausfindig machen willst. Aber von wem auch immer das Ding da dir was erzählen kann … ich will damit nichts zu tun haben, und ich glaub, du besser auch nicht.«
»Shelby, bitte«, keuchte Luce. Nur mit großer Mühe konnte sie den schweren, eiskalten und ekligen Schatten noch halten. »Ich bin keine Nephilim. Wenn du mir nicht hilfst, schaff ich das nicht.«
»Was treibt ihr da unten?«, fragte eine Stimme über ihnen. Steven beugte
Weitere Kostenlose Bücher