Engelsmorgen
vorstellen, diese Menschen sehen ihr ganzes Leben lang nur die Schatten an der Wand. Sie begreifen die Welt und alles, was in ihr geschieht, nur anhand der Schatten. Wer oder was aber die Schatten wirft, sehen sie nie. Ja, sie begreifen nicht einmal, dass das, was sie sehen, nur Schatten sind.«
Luce folge Stevens Finger zur zweiten Gruppe von Menschen. »Bedeutet das, sie können sich nie umdrehen, nie die anderen Menschen und die Dinge sehen, die diese Schatten werfen?«
»Ganz genau. Und weil sie nicht sehen können, was die Schatten wirft, glauben sie, dass das, was sie sehen können – diese Schatten an der Wand –, die Wirklichkeit ist. Sie haben keine Ahnung, dass die Schatten nur verzerrte Abbildungen sind. Doch die Wirklichkeit und die Wahrheit sehen ganz anders aus.« Er machte eine Pause. »Weißt du, warum ich dir das alles erzähle?«
Luce nickte. »Weil Sie wollen, dass ich nicht länger mit den Verkündern herumpfusche?«
Steven klappte das Buch zu, stand dann auf und machte ein paar Schritte auf und ab. Luce hatte das Gefühl, ihn irgendwie enttäuscht zu haben.
»Nein, weil ich glaube, dass du nicht aufhören wirst, mit den Verkündern herumzupfuschen, selbst wenn ich es dir verbiete. Aber ich möchte, dass du wenigstens weißt, womit du es zu tun hast, wenn du das nächste Mal einen herbeirufst. Die Verkünder sind nämlich nur Schatten vergangener Ereignisse. Sie können hilfreich sein, aber das Bild, das sie zeigen, enthält auch Verzerrungen. Und das lenkt nicht nur vom Wesentlichen ab, sondern kann auch richtig gefährlich sein. Man muss vorher sehr viel lernen. Erst einmal die richtige, sichere Technik, die Schatten herbeizurufen; und dann, wenn man seine Begabung ausgebildet hat, lernt man auch, wie das Rauschen des Verkünders ausgeblendet werden kann, nur so kann man nämlich seine eigentliche Botschaft vernehmen …«
»Sie meinen dieses zischende Geräusch? Man kann dahinter eine Botschaft heraushören?«
»Ja. Aber so einfach ist das nicht.« Steven wandte sich zu Luce, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. »Wonach habt ihr beide eigentlich heute gesucht, du und Shelby?«
Luce spürte, wie sie rot wurde. Sie rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. Dieses Gespräch nahm eine andere Wendung, als sie erwartet hatte. Sie hatte sich auf Nachsitzen oder irgendeine Strafarbeit gefasst gemacht, Müllaufsammeln oder so was.
»Wir, ähm, wir wollten mehr über meine Familie herauskriegen«, brachte sie schließlich heraus. Zum Glück schien Steven nicht mitbekommen zu haben, dass kurz vorher Cam bei ihr gewesen war. »Oder besser gesagt, über meine Familien. Aus meinen früheren Leben.«
»Das ist alles?«
»Krieg ich jetzt Ärger?«
»Was anderes hast du nicht gemacht?«
»Was denn?«
Auf einmal kam Luce der Gedanke, dass Steven vielleicht glaubte, sie hätte mit Daniel Kontakt aufnehmen wollen, um ihm irgendwie eine Botschaft zukommen zu lassen oder so was Ähnliches. Als ob sie überhaupt eine Ahnung hätte, wie sie das anstellten konnte.
»Okay«, sagte Steven, »dann ruf jetzt mal einen Schatten herbei!« Er öffnete das Fenster. Inzwischen war es draußen bereits dunkel, und Luces hungriger Magen sagte ihr, dass alle anderen Schüler schon längst beim Abendessen saßen.
»Ich … ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Steven sah sie mit freundlicherem Blick als vorher an. Er wirkte fast etwas aufgeregt. »Wenn wir einen Verkünder herbeirufen, drücken wir damit einen großen Wunsch aus. Keinen materiellen Wunsch, sondern den Wunsch, die Welt besser zu verstehen, unsere Rolle in ihr. Wir wünschen uns etwas Wichtiges für unsere Zukunft.«
Luce dachte sofort an Daniel, daran, was sie sich in ihrer Beziehung am meisten wünschte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie eine wichtige Rolle darin spielte, dass sie mitgestalten konnte, was in Zukunft aus ihnen beiden werden würde – aber sie wollte eine eigene Rolle dabei haben. War sie deshalb in der Lage gewesen, die Verkünder herbeizurufen? Weil sie sich das so sehr wünschte? Sie hatte bisher immer gedacht, die Schatten würden ihr auflauern.
Nervös rutschte sie in die Mitte ihres Stuhls. Sie schloss die Augen. Stellte sich vor, wie ein Schatten sich aus der Dunkelheit draußen löste, aus der Finsternis zwischen den riesigen Baumstämmen, malte sich aus, wie er näher glitt und an der Mauer hochkletterte, wie er das Rechteck des offenen Fensters ausfüllte. Dann zu ihr schwebte, näher, immer näher.
Zuerst
Weitere Kostenlose Bücher