Engelsmorgen
der vergangenen Nacht mit Daniel am Strand in ihr auf, und ihre eigenen Gefühle von Liebe und Hass – oder wenn nicht Hass, dann doch eine wachsende Wut – verknoteten sich in ihr.
Jubelrufe kamen von ihren Klassenkameraden. Luce hatte das Gefühl, nur einmal geistesabwesend geblinzelt zu haben, aber sie hatte den entscheidenden Moment verpasst. Francesca hatte die Spitze ihres Säbels auf Stevens Brust gesetzt. Nahe beim Herz. Sie presste ihn so fest dagegen, dass die schmale Klinge sich durchbog. Beide standen einen Augenblick reglos da und schauten einander in die Augen. Luce hätte nicht sagen können, ob das auch Teil der Vorführung war oder nicht.
»Glatt durchs Herz«, stellte Steven fest.
»Als ob du eines hättest«, flüsterte Francesca.
Die beiden Lehrer schienen vergessen zu haben, dass sie von Schülern umringt waren.
»Noch ein gewonnener Kampf für Francesca«, sagte Jasmine. Sie beugte den Kopf zu Luce und senkte die Stimme. »Sie stammt aus einem großen Geschlecht von Siegern. Kann man von Steven nicht gerade sagen.« Nach diesem gewichtig klingenden Kommentar hüpfte Jasmine von der Bank, zog sich die Maske übers Gesicht und straffte noch einmal ihren Pferdeschwanz. Auf in den Kampf.
Während die anderen Schüler um sie herum eifrig ihre Schwerter schwangen, versuchte Luce, sich eine ähnliche Szene zwischen ihr und Daniel vorzustellen: Sie gewinnt die Oberhand und setzt ihm die Spitze ihres Schwerts auf die Brust, wie das Francesca bei Steven getan hatte. Sodass er von ihrer Gnade abhängig war. Unmöglich. Sie konnte sich das nicht einmal vorstellen. Und das ärgerte Luce. Nicht weil sie unbedingt Daniel herumkommandieren wollte, sondern weil sie selbst nicht wollte, dass ihr dauernd Vorschriften gemacht wurden. Am Abend vorher hatte er sie viel zu sehr nach seiner Pfeife tanzen lassen. Als sie an seinen Abschiedskuss dachte, errötete sie. Er hatte sie damit überwältigt, aber auf die schlimme Weise. Das hatte ihr Angst gemacht.
Sie liebte ihn. Trotzdem.
Diesen Satz müsste sie eigentlich denken können, ohne den hässlichen kleinen Nachsatz hinzuzufügen. Doch sie konnte ihn nicht weglassen. Was sie jetzt mit Daniel hatte, war nicht die Beziehung, die sie sich wünschte. Und wenn die Spielregeln zwischen ihnen auch weiter so bleiben würden, wusste sie nicht, ob sie da wirklich noch länger mitspielen wollte. Was hatte sie als Partnerin eigentlich ihm zu bieten? Was hatte er als Partner eigentlich ihr zu bieten? Wenn er sich auch zu anderen Mädchen hingezogen gefühlt hatte … dann musste er sich solche Fragen ebenfalls gestellt haben. Entsprachen ihnen vielleicht andere Gefährten besser, mit denen es mehr Übereinstimmung gab?
Wenn Daniel sie küsste, spürte Luce durch und durch, dass er ihre Vergangenheit war. Wenn er sie fest umschlungen in seinen Armen hielt, wollte sie mit jeder Faser, dass er ihre Gegenwart war. Aber sobald ihre Lippen auseinandergingen, war sie sich nicht mehr wirklich sicher, ob er auch ihre Zukunft war. Sie brauchte die Freiheit, ihre Entscheidung treffen zu können. So oder so. Bis jetzt hatte sie doch gar keine Ahnung, welche Jungs da vielleicht sonst noch auf sie warteten.
Steven stand vor ihr, jetzt wieder ganz der Lehrer. Das Schwert steckte in einer schwarzen Lederscheide an seinem Gürtel. »Geh da rüber in die Ecke, Miles«, sagte er. »Du wirst dort gegen Roland kämpfen.«
Miles, der links neben Luce stand, beugte sich zu ihr und flüsterte: »Roland und du, ihr kennt euch doch schon lange – was ist denn seine Achillesferse? Ich will auf keinen Fall gegen einen Neuen verlieren!«
»Ähm … Ich weiß nicht …« Luce fiel nichts ein, was sie Miles groß erzählen konnte. Sie sah zu Roland hinüber, der seine Maske bereits aufgesetzt hatte, und ihr fiel auf, wie wenig sie eigentlich über ihn wusste. Sie wusste über seine Liste an Schwarzmarktartikeln Bescheid. Sie wusste, dass er gerne Mundharmonika spielte. Vor allem aber erinnerte sie sich daran, wie er Daniel damals an ihrem ersten Tag in Sword & Cross zum Lachen gebracht hatte. Sie hatte immer noch nicht rausbekommen, worüber sie damals eigentlich geredet hatten … und auch nicht, warum Roland eigentlich hier in Shoreline war. Nein, was Mr Sparks betraf, da tappte Luce vollständig im Dunkeln.
Miles knuffte sie in die Seite. »War doch nur Spaß, Luce. Na klar wird der mich vermöbeln, das kann gar nicht anders sein.« Er stand lachend auf. »Wünsch mir Glück.«
Francesca
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