Engelsmorgen
ließ Luce zusammenfahren. Sie blickte um sich.
Auf der anderen Seite der Terrasse war Miles gestürzt und lag auf dem Rücken. Roland beugte sich über ihn. Und nicht nur das, er fuhr richtiggehend auf ihn herunter, denn er schwebte über ihm in der Luft.
Riesige Flügel waren aus Rolands Schultern herausgewachsen, so breit wie ein weiter Umhang und wie bei einem Adler gefiedert. Allerdings waren sie noch zusätzlich golden gesprenkelt, sodass sie wie schwarz-goldener Marmor wirkten. Roland musste in seiner Fechtmontur dieselbe Art von Schlitzen haben wie Daniel in seinem T-Shirt. Luce hatte Rolands Schwingen vorher noch nie gesehen und wie die anderen Schüler um sie herum konnte sie ihren staunenden Blick nicht von seinen Flügeln lösen. Shelby hatte ihr erzählt, dass nur sehr wenige Nephilim Flügel hatten und keiner davon ging in Shoreline zur Schule. Bei Roland plötzlich zu sehen, wie er seine in der Schlacht entfaltete, selbst wenn es nur eine Schwertkampfübung war, ließ alle ringsum nervös erschaudern.
Rolands Flügel zogen so sehr die Aufmerksamkeit auf sich, dass Luce einen Moment brauchte, bis sie begriff, dass die Spitze von Rolands Schwert unmittelbar über Miles’ Brustbein schwebte und ihn am Boden hielt. Die Silhouette von Roland in seinem strahlend weißen Fechtanzug und mit seinen goldenen Schwingen hob sich deutlich von den dunklen Bäumen hinter der Terrasse ab. Mit vors Gesicht herabgezogener schwarzer Fechtmaske wirkte er noch furchteinflößender, als wenn Luce sein Gesicht hätte sehen können. Sie hoffte, dass sein Gesichtsausdruck dahinter weniger kriegerisch war, denn schließlich was das alles ja nur ein Spiel. Aber er hatte Miles in eine Lage gebracht, in der er ihn jederzeit schwer verletzen konnte. Luce sprang auf, um zu Miles hinüberzurennen. Überrascht stellte sie fest, dass ihr die Knie zitterten.
»Oh mein Gott, Miles!«, rief Dawn in ihrer Ecke und vergaß dabei einen Moment lang ganz ihren eigenen Kampf. Lange genug, um Shelby einen Satz nach vorne machen zu lassen, bei dem sie es schaffte, Dawns ungeschützte Brust zu touchieren und mit diesem entscheidenden Punkt zu gewinnen.
»Nicht gerade nach allen Regeln des Fairplay, auf diese Weise zu siegen«, sagte Shelby, als sie ihren Degen in die Scheide steckte. »Aber manchmal läuft es eben so.«
Luce huschte an ihnen vorbei und schlängelte sich zwischen den übrigen Nephilim hindurch, die in keine Zweikämpfe verstrickt waren, um zu Roland und Miles zu gelangen. Beide keuchten. Roland stand inzwischen wieder mit den Füßen auf der Terrasse, seine Flügel waren unter seiner Fechtmontur verschwunden. Mit Miles war alles in Ordnung. Trotzdem konnte Luce nicht aufhören zu zittern.
»Puh, da hast du mich ja ganz schön erwischt.« Miles lachte nervös auf und schob die Schwertspitze von seinem Brustbein weg. »Mit deiner Geheimwaffe hatte ich natürlich nicht gerechnet.«
»Tut mir echt leid«, sagte Roland. Die Entschuldigung war aufrichtig gemeint. »Ich wollte das mit den Flügeln gar nicht. Aber manchmal passiert das im Eifer des Gefechts einfach.«
»Na ja, gutes Spiel. Jedenfalls bis zu dem Augenblick.« Miles streckte die Hand aus, damit man ihm aufhalf. »Sagt man das eigentlich beim Fechten – ›gutes Spiel‹?«
»Nein, das sagt keiner.« Roland klappte mit einer Hand sein Visier hoch und ließ das Schwert fallen, das er in der anderen hielt. Grinsend griff er nach Miles’ Hand und zog ihn mit einer raschen Bewegung hoch. »War von dir auch ein gutes Spiel.«
Luce atmete erleichtert aus. Natürlich würde Roland Miles bei einer Fechtübung nicht verletzen, jedenfalls nicht absichtlich. Roland war ein freakiger Typ, und man wusste nie, was er als Nächstes vorhatte, aber er war nicht gefährlich; selbst wenn er in jener Nacht auf dem Friedhof von Sword & Cross auf Cams Seite gekämpft hatte. Es gab keinen Grund, ihn ernsthaft zu fürchten. Warum hatte sie dann zu zittern angefangen? Warum wollte ihr Herz gar nicht aufhören, rasend schnell zu schlagen?
Dann verstand sie, warum. Wegen Miles. Er war ihr bester Freund hier in Shoreline. Und immer wenn sie in den letzten Tagen mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie unwillkürlich an Daniel denken müssen und wie viele Dinge doch zwischen ihnen irgendwie im Argen lagen. Und manchmal wünschte sie sich insgeheim, dass Daniel ein bisschen mehr von Miles hätte. Immer gut gelaunt und unkompliziert, aufmerksam und einfach nett. Weniger mit solchem
Weitere Kostenlose Bücher