Engelsnacht
Akzent, und Luce hätte sich am liebsten wie Penn die Ohren zugehalten.
Bitte nicht Schwimmen, bettelte Luce innerlich. Bitte nicht Schwimmen.
»Schwimmen«, sagte Randy.
Als Luce neben Penn zur Mädchenumkleide ging, bemühte sie sich, nicht zu Gabbe zurückzuschauen, die um ihren perfekt manikürten Zeigefinger den wohl einzigen modischen Badeanzug aus dem Karton kreisen ließ. Stattdessen richtete sie ihren Blick auf die grauen Steinmauern und die religiösen Requisiten, mit denen der lange Gang geschmückt war. Geschnitzte Kreuzwegstationen. Alte Flügelaltäre, deren Malereien so stark nachgedunkelt waren, dass nur noch die Heiligenscheine leuchteten. Einmal beugte sich Luce kurz über eine breite Schriftrolle auf Lateinisch, die in einer Vitrine ausgestellt war.
»Erbauliches Dekor, was?«, meinte Penn, nachdem sie mit einem kräftigen Schluck aus ihrer Wasserflasche zwei Aspirin hinuntergespült hatte.
»Was ist das alles für Zeug?«, fragte Luce.
»Uralte Geschichte. Die einzigen Überreste aus der Zeit, als hier noch die Sonntagsgottesdienste gefeiert wurden, in den Zeiten des Bürgerkriegs.«
»Warum haben sie es nicht weggeschafft?«, erwiderte Luce, die vor einer Marmorkopie der Pietà von Michelangelo stand.
»Wie alles andere in diesem Höllenloch haben sie auch das nur halbherzig gemacht. Also ich meine, wer baut schon ein Schwimmbecken einfach so mitten in eine alte Kirche?«
»Du machst Witze«, meinte Luce.
»Schön wär’s!« Penn verdrehte die Augen. »Jedes Jahr im Sommer fällt dem Direktor plötzlich ein, das hier endlich mal umzugestalten, und am liebsten hätte er, dass ich das mache. Er würde es nie zugeben, aber das ganze Gotteszeug nervt ihn gewaltig. Das Problem ist nur, wenn ich diese Bruchbude mal richtig aufräumen würde, wüsste ich überhaupt nicht, wohin mit den ganzen Sachen. Schließlich will ich ja bei niemandem irgendwelche Gefühle verletzen - und schon gar nicht Gott beleidigen!« Sie lachte.
Luce dachte an die makellos weißen Wände der Turnhalle in Dover, an die vielen Fotos von Wettkämpfen, die dort hingen, alle einheitlich mit dunkelblauem Passepartout und goldenem Rahmen. Der einzige Ort in Dover, der eine noch größere Würde ausstrahlte, war der Korridor vor dem Schulbüro gewesen, wo die Porträts der ehemaligen Schüler hingen, die Senatoren geworden waren oder Guggenheim-Stipendiaten oder auch nur ganz normale Milliardäre.
»Du könntest die aktuellen Fahndungsbilder der ehemaligen Schüler der Sword & Cross hier aufhängen«, schlug eine Stimme hinter ihnen vor. Gabbe.
Luce fing an zu lachen - es war witzig … und seltsam, fast als hätte Gabbe gerade ihre Gedanken gelesen. Aber dann erinnerte sie sich an die Szene im Flur gestern Abend. Wie Gabbe zu Daniel gesagt hatte, dass sie zusammengehörten.
Da schluckte Luce schnell ihr Lachen hinunter. Mit diesem Mädchen wollte sie nichts zu tun haben.
»Nicht so herumtrödeln!«, brüllte plötzlich eine fremde Stimme. Wie aus dem Nichts war eine Trainerin - Luce entschied, dass es sich um ein weibliches Wesen handeln musste - vor ihnen aufgetaucht. Sie hatte ihre gekräuselten braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, dicke, stämmige Waden und eine Zahnspange über den Vorderzähnen. Ungeduldig drängte sie die Mädchen in einen Umkleideraum, wo sie jeder von ihnen ein Vorhängeschloss mit Schlüssel aushändigte und sie zu einem Schließfach schubste. »Bei Trainer Diante wird nicht herumgetrödelt.«
Luce und Penn zogen die verwaschenen alten Badeanzüge an, die man ihnen ausgehändigt hatte. Als Luce sich im Spiegel erblickte, zuckte sie zusammen und wickelte sich schnell ihr Handtuch um.
Kaum hatte sie die Schwimmhalle betreten, begriff sie sofort, was Penn gemeint hatte. Das Becken selbst war groß und schien den modernsten Standards zu entsprechen - auf dem ganzen Schulgelände war ihr bisher nichts Ähnliches begegnet. Doch das war es nicht, was Luce so in Staunen versetzte. Das Schwimmbecken war nämlich tatsächlich in das Mittelschiff der alten Kirche hineingebaut worden.
Über den Seitenwänden mit ihren bunten Glasfenstern wölbte sich eine hohe Decke mit Kreuzrippenbögen, an den Seiten reihten sich kerzenerleuchtete Nischen mit Sitzbänken aneinander, und an der Stelle, wo früher wohl der Altar gewesen war, hatte man ein Sprungbrett angebracht. Wäre Luce nicht areligiös erzogen worden, sondern als gläubige Christin, wie die meisten ihrer Freunde in der
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