Engelsnacht
hatten
sie schon die Lichtung erreicht und Luce staunte mit offenem Mund.
Während Daniel und sie durch den Wald gegangen waren, hatte sich etwas um sie her verändert,und diese Veränderung hatte nicht nur damit zu tun, dass sie sich von dem tristen Schulgelände der Sword & Cross entfernt hatten. Als sie zwischen den Bäumen hinaustraten, war Luce, als würde sie plötzlich mitten in einem Postkartenidyll stehen, eine jener Postkarten, wie sie manchmal noch auf den Metallständern in Lebensmittelläden verschlafener, kleiner Ortschaften zu finden waren, Traumbilder eines Südens, den es nicht mehr gab. Alle Farben waren mit einem Mal viel leuchtender und klarer. Der See, der sich vor ihnen erstreckte, war kristallblau, und der dichte Wald, der ihn umstand, smaragdgrün. Zwei weiße Möwen glitten durch den tiefblauen Himmel. Sie standen auf einem roten Felsen, der in den See hineinragte. Neben ihnen wuchs eine Magnolie. Luce konnte hinter dem Wald das gelbbraune Sumpfland erahnen, wo sich Süß- und Salzwasser mischten, und irgendwo dahinter, das wusste sie, begann der Ozean, dessen weiße Schaumkronen den fernen Horizont säumten.
Sie blickte zu Daniel auf. Auch er wirkte anders als vorher. Seine Haut schimmerte in diesem Licht golden, seine grauen Augen waren wie ein sanfter Landregen. Luce spürte, wie sie auf ihr ruhten, schwer und weich.
»Hab ich zu viel versprochen?«, fragte er. Daniel wirkte viel entspannter, seit sie beide allein waren.
»Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, sagte Luce. Ihr Blick schweifte über den glatt und unberührt daliegenden See. Wie verlockend er wirkte. Am liebsten wäre sie hineingesprungen. In der Mitte der Wasserfläche war ein breiter, flacher, moosbedeckter Felsen zu sehen. »Was ist das?«
»Zeig ich dir«, sagte Daniel und schlüpfte aus seinen Turnschuhen. Luce bemühte sich, nicht zu auffällig hinzuschauen, als er das T-Shirt über den Kopf zog. Er hatte einen muskulösen Oberkörper. »Sei kein Spielverderber«, fügte er hinzu. Erst da fiel ihr auf, wie reglos sie wohl dagestanden haben musste. »Du kannst deine Sachen zum Schwimmen anlassen.« Er deutete auf das graue Tanktop und die abgeschnittene Jeans, die sie anhatte. »Ich lass dich diesmal auch gewinnen.«
Luce lachte. »Anders als sonst? Als immer du gewonnen hast, weil ich mich vornehm zurückgehalten habe?«
Daniel fing schon an zu nicken, dann hielt er inne. »Nein, anders als vor ein paar Tagen im Schwimmbad. Als du nur Zweite geworden bist.«
Eine Sekunde lang verspürte Luce das Bedürfnis, ihm zu erzählen, warum sie nur Zweite geworden war. Vielleicht könnten sie dann gemeinsam über das Missverständnis wegen Gabbe lachen, die doch nicht seine Freundin war. Aber da hatte Daniel schon die Arme über den Kopf nach vorne gestreckt, einen Augenblick schwebte sein Körper in der Luft, um dann nach einem perfekten Sprung ins Wasser einzutauchen, das nur ein klein wenig aufspritzte.
Es war so ungefähr das Schönste, was Luce je gesehen hatte. Daniels Sprung war von vollendeter Anmut. Selbst der kleine Spritzer beim Eintauchen ins Wasser hatte wie Musik geklungen.
Sie wollten dort unten bei ihm sein.
Luce streifte ihre Turnschuhe ab und ließ sie unter dem Magnolienbaum neben denen von Daniel stehen. Dann stellte sie sich ganz vorne an die Felskante. Das Wasser lag fünf Meter tief unter ihr. Vor einem solchen Sprung klopfte ihr immer das Herz. Aber freudig und erwartungsvoll.
Unter ihr tauchte Daniels Kopf aus dem Wasser auf. Er lächelte zu ihr hoch, schwamm auf der Stelle. »Wenn du noch lange herumtrödelst, lass ich dich nicht mehr gewinnen«, rief er.
Sie holte tief Luft, zielte mit den Fingern neben Daniels Kopf, sprang kraftvoll ab und schwebte mit ausgebreiteten Armen in der Luft. Der Sturz dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber das Gefühl dabei war unglaublich, sie schwebte durch den warmen Herbsttag, nach unten, unten, unten.
Platsch. Das Wasser war zuerst eiskalt, eine Sekunde später fühlte es sich genau richtig an. Luce tauchte auf, um Atem zu holen, blickte zu Daniel und schwamm dann los, im Schmetterlingsstil, den sie so sehr liebte.
Sie strengte sich so an, dass sie nichts mehr wahrnahm, nicht einmal mehr Daniel. Sie wusste, sie tat das alles, um ihn zu beeindrucken, und hoffte nur, dass er ihr auch zusah. Der Felsen rückte näher und näher, bis sie schließlich mit der Hand anschlug - knapp vor Daniel.
Beide keuchten, als sie sich auf den flachen, von
Weitere Kostenlose Bücher