Engelsnacht
Oder
nein, doch nicht, sie hatte etwas anderes gedacht - oder war kurz davor gewesen, etwas anderes zu denken -, aber sie konnte sich jetzt nicht mehr daran erinnern.
»Eltern: unbekannt«, las Penn vor, während Luce sich über ihre Schulter beugte. »Vormund: Städtisches Waisenhaus von Los Angeles.«
»Waisenhaus?«, fragte Luce und fuhr sich mit der Hand ans Herz.
»Mehr steht da nicht. Alles andere ist nur eine Liste seiner …«
»Seiner Vergehen«, führte Luce den Satz zu Ende und las laut vor. »Nächtliches Herumlungern am Strand … mutwillige Beschädigung eines Einkaufswagens … unerlaubtes Überqueren einer Straße.«
Penn riss die Augen auf, schaute Luce an und unterdrückte ein Lachen. »Der supersmarte Grigori wurde beim unerlaubten Überqueren einer Straße erwischt? Wegen solcher Sachen haben sie ihn auf die Sword & Cross geschickt? Du musst doch auch zugeben, dass das komisch ist!«
Luce gefiel die Vorstellung nicht, dass Daniel überhaupt für irgendetwas verhaftet worden war. Aber noch viel weniger gefiel ihr, dass sich sein ganzes Leben laut Sword & Cross auf eine kurze Liste belangloser Delikte reduzieren ließ. So viele Kartons voller Papiere hier in diesem Keller, und über Daniel nicht mehr als dieses eine Blatt.
»Das kann unmöglich alles sein«, sagte sie.
Über ihnen waren Schritte zu hören. Ihre Blicke wanderten zur Decke.
»Das Schulbüro«, flüsterte Penn. »Kein Ahnung, wer das sein könnte. Aber hier kommt keiner runter, keine Sorge.« Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und putzte sich die Nase.
Doch keine Sekunde später ging knarzend eine Tür auf und Licht fiel auf eine Treppe, die offensichtlich aus dem Büro hier herunterführte. Schritte waren zu hören. Luce spürte, wie Penn sie an ihrem T-Shirt packte und an die Wand hinter dem nächsten Regal zog. Sie hielten den Atem an und warteten, was nun geschehen würde. Penn hatte das Blatt Papier in der Hand, Luce Daniels Aktenmappe. Sie waren geliefert.
Luce schloss die Augen und war aufs Schlimmste gefasst, als eine leise, wehmütige Melodie den Raum erfüllte. Jemand summte vor sich hin.
»Dummmmdadadadummm.« Eine sanfte weibliche Stimme. Es gelang Luce, zwischen zwei Archivkartons hindurchzuspähen, und sie sah eine zierliche ältere Frau mit einer kleinen Lampe an der Stirn, wie ein Bergmann. Miss Sophia. Sie trug zwei übereinandergestapelte große Kartons, so dass von ihrem Gesicht nur ihre leuchtende Stirn zu sehen war. Ihr leichter, beschwingter Schritt erweckte den Eindruck, als wären in den Archivkartons nur Federn und keine schweren Aktenmappen.
Penn hielt Luces Hand umklammert, während sie beobachteten, wie Miss Sophia die Kartons auf ein leeres Regalbrett stellte. Sie zog einen Stift heraus und schrieb etwas in ihr Notizbuch.
»Jetzt sind es nicht mehr viel«, murmelte sie. Dann machte Miss Sophia kehrt und war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Einen Augenblick lang lag noch ihr Summen in der Luft.
Als die Tür zugefallen war, atmete Penn erst einmal tief aus. »Sie kommt bestimmt gleich zurück«, sagte sie dann.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Luce.
»Du schleichst dich hier vorsichtig raus.« Penn deutete
auf die Tür, durch die sie hereingekommen waren. »Oben biegst du links ab, dann landest du in der Eingangshalle. Wenn dich zufällig jemand sieht, kannst du immer noch sagen, dass du nach einer Toilette suchst. Du bist schließlich neu hier.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich räume Daniels Akte weg und treffe dich danach draußen bei den Bänken. Miss Sophia wird keinen Verdacht schöpfen, wenn sie mich sieht. Ich bin so oft hier unten, dass es schon wie mein zweites Zuhause ist.«
Luce blickte mit leisem Bedauern auf Daniels Mappe und reichte sie dann Penn. Sie war hier unten noch nicht fertig. Schon als sie sich darauf eingelassen hatte, in Daniels Akte herumzuschnüffeln, hatte sie auch an Cam gedacht. Daniel war so rätselhaft - und seine Akte leider auch, wie sich jetzt herausgestellt hatte. Cam dagegen war so direkt, alles schien bei ihm so offen ausgesprochen, dass Luce gerade deswegen neugierig war. Sie fragte sich, ob es nicht etwas über ihn herauszufinden gab, was er nicht so gerne mitteilte. Irgendein dunkles Geheimnis. Aber ein Blick in Penns Gesicht machte ihr klar, dass dazu keine Zeit mehr war. Sie konnten froh sein, wenn sie hier rauskamen.
»Wenn es über Daniel etwas herauszufinden gibt, dann werden wir es herausfinden«, sagte Penn.
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