Engelsnacht
mit Trevor erzählte, wie schrecklich das gewesen war, vielleicht würde er ihr dann sein Herz öffnen. Zugleich wusste sie, dass sie es nicht ertragen würde, ihn von seinem bisherigen Leben erzählen zu hören. Mit einem anderen Mädchen. Ohne sie. Bei der Vorstellung, dass Daniel mit einem anderen Mädchen zusammen war, wurde ihr schlecht. Sie sah lauter Gabbes und Mollys vor sich, eine Montage aus lächelnden Gesichtern, Kussmündern, großen Augen, blonden und schwarzen Haaren.
Seine gescheiterte Beziehung sollte eine Erklärung sein. Aber das war sie nicht. Daniel hatte sich von Anfang an seltsam und widersprüchlich verhalten. Hatte ihr den Stinkefinger gezeigt, bevor sie überhaupt das erste Mal miteinander gesprochen hatten, und sie dann wieder vor der herabstürzenden Statue im Friedhof beschützt. Und jetzt war er mit ihr hierher zum See gegangen - nur sie beide. Er tauchte andauernd in ihrer Nähe auf.
Daniel hatte sich ebenfalls aufgesetzt. »Keine befriedigende Antwort?«, fragte er, als wüsste er, was sie gerade dachte.
»Ich hab das Gefühl, dass da noch etwas ist, was du mir verschweigst«, sagte sie.
All das war durch eine enttäuschte Liebe allein nicht zu erklären. Das wusste Luce. Sie hatte auf diesem Gebiet einige Erfahrung.
Er kehrte ihr jetzt den Rücken zu und blickte zurück zu dem Pfad, auf dem sie hergekommen waren. Nach einer Weile lachte er bitter auf. »Natürlich gibt es Dinge, die ich dir nicht erzählt habe. Ich kenne dich kaum. Wie kommst du darauf, dass ich dir irgendetwas schuldig bin.« Er stand auf.
»Wo willst du hin?«
»Ich muss zurück«, sagte er.
»Geh nicht fort«, flüsterte sie, aber er schien sie nicht mehr zu hören.
Luce konnte kaum die Tränen zurückhalten, während sie zusah, wie Daniel vom Felsen ins Wasser sprang.
Er tauchte ein ganzes Stück entfernt auf und kraulte dann ans Ufer. Einmal drehte er sich kurz um und winkte ihr zu. Ein Abschiedswinken.
Dann wurde ihr ganz anders um Herz, als er sich plötzlich aufrichtete und die Arme im perfekten Schmetterlingsschlag nach vorne zu ziehen begann. So leer Luce sich auch innerlich fühlte, in diesem Augenblick war sie voller Bewunderung für Daniel. Er bewegte sich anmutig und leicht durchs Wasser, dass es kaum noch nach Schwimmen aussah, sondern fast so, als würde er fliegen.
In null Komma nichts hatte er das Ufer erreicht, als wäre die Entfernung zwischen ihnen viel kürzer, als es Luce vorkam. Daniel war so elegant und scheinbar mühelos geschwommen. Aber nie hätte er das Ufer in so kurzer Zeit erreicht, wenn er sich nicht mit seiner ganzen Kraft nach vorne gestoßen hätte.
Wie dringend war es ihm, von ihr fortzukommen?
Eine verwirrende Mischung aus Abwehr und Hingerissenheit erfüllte sie, als sie beobachtete, wie Daniel wieder ans Ufer und den Felsen hochkletterte. Ein breiter Sonnenstrahl drang in diesem Augenblick zwischen den Bäumen
hindurch und hüllte seine Gestalt in gleißendes Licht, sodass Luce geblendet die Augen zusammenkneifen musste.
Sie fragte sich, ob es die Nachwirkungen ihres Zusammenstoßes mit dem Fußball waren, ob sie deswegen plötzlich Sehstörungen hatte. Oder ob das, was sie zu sehen glaubte, eine Fata Morgana war. Eine Luftspiegelung. Irgendeine Täuschung des Lichts.
Sie stand auf, um noch besser sehen zu können.
Daniel schüttelte sich drüben auf dem Felsen das Wasser aus den Haaren, das war alles. Aber ein ganzer Schwarm an Tröpfchen schien ihn zu umgeben, der Schwerkraft trotzend, in einem hohen Bogen über seinen ausgestreckten Armen.
Das Wasser funkelte und glitzerte in der Sonne so hell, dass es fast aussah, als hätte Daniel Flügel.
Neun
In aller Unschuld
Spät am Montagnachmittag stand Miss Sophia im größten Klassenzimmer von Augustine und versuchte, mit ihren Händen und mithilfe eines Scheinwerfers Schattenfiguren an die Wand zu zeichnen. Sie hatte für die Schüler ihres Religionskurses eine letzte Wiederholungssitzung vor der schriftlichen Prüfung am nächsten Tag anberaumt, und da Luce schon einen ganzen Monat Unterricht verpasst hatte, strengte sie sich an, um wenigstens etwas nachzuholen.
Was auch erklärte, warum sie die Einzige war, die sich Notizen machte. Die anderen Schüler bemerkten noch nicht einmal, dass die Abendsonne, die durch die schmalen Westfenster schien, Miss Sophias Schattenspielversuche erfolgreich zunichtemachte. Und Luce wollte die Aufmerksamkeit der anderen nicht darauf lenken, dass sie dem Unterricht folgte,
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