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Engelsnacht

Engelsnacht

Titel: Engelsnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Kate
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indem sie aufstand und die Jalousien herunterließ.
    Als die Sonne sie im Nacken kitzelte, wurde ihr mit einem Mal bewusst, wie lange sie schon in diesem Klassenzimmer saß. Am Morgen im Geschichtsunterricht hatte die Sonne noch durch die Ostfenster geschienen und Mr Coles spärlichen Haarkranz wie eine Mähne aufleuchten lassen. Am frühen Nachmittag hatte sie in stickig-schwüler Luft den Ausführungen des Albatros, ihrer Biologielehrerin, gelauscht. Und jetzt war es schon fast Abend. Die Sonne war um die
ganze Schule herumgewandert und Luce hatte ihren Platz kaum verlassen. Ihr Körper fühlte sich so starr und steif an wie der Metallstuhl, auf dem sie saß, und ihr Geist war so stumpf wie der Bleistift, mit dem sie es inzwischen aufgegeben hatte, Notizen machen zu wollen.
    Was sollte dieses Schattenspieltheater? Glaubte Miss Sophia etwa, sie hätte hier kleine Kinder vor sich, vielleicht Fünfjährige?
    Aber dann schämte Luce sich sofort. Von allen Lehrern hier war Miss Sophia bei Weitem am nettesten. Sie hatte Luce sogar beiseitegezogen, um sie freundlich darauf hinzuweisen, dass ihre Recherche zu ihrem Familienstammbaum noch sehr zu wünschen übrig ließ. Luce hatte danach erfreute Dankbarkeit geheuchelt, als Miss Sophia sich eine ganze Stunde Zeit genommen hatte, um ihr noch einmal die Datenbanksuche zu erklären. Auch da hatte sie sich etwas geschämt, aber sich dumm zu stellen war immer noch besser als zuzugeben, dass sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, an einen ganz bestimmten Mitschüler zu denken, um noch Zeit für ihre Recherche zu haben.
    Miss Sophia stand in ihrem langen schwarzen Kleid aus Crêpe de Chine vor der Klasse, verschränkte die Daumen und hob die Hände in die Luft. Gleich würde sie die nächste mythologische Figur zeigen. Draußen am Himmel schob sich eine Wolke vor die Sonne. Luce versuchte, sich wieder auf Miss Sophias Unterricht zu konzentrieren, da bemerkte sie plötzlich, dass hinter ihr an der Wand tatsächlich ein Schatten sichtbar war.
    »Wie ihr aufgrund unserer gemeinsamen Lektüre von Miltons Das verlorene Paradies im vergangenen Schuljahr sicher alle noch wisst, gab Gott auch den Engeln zu einem bestimmten Zeitpunkt einen eigenen Willen.« Miss Sophia
hielt die Hände hoch und ließ ihre Finger flattern, als wäre es der Flügelschlag eines Engels. »Doch da war einer, der das Vertrauen, das Gott ihm geschenkt hatte, aufs Bitterste enttäuschte …« Miss Sophias Stimme verstummte dramatisch, und Luce sah, wie sie ihre Daumen nach oben reckte, sodass aus den Engelsflügeln plötzlich zwei Teufelshörner ragten.
    Hinter Luce murmelte jemand: »Haha, wahnsinnig beeindruckend. Das ist einer der ältesten Tricks!«
    Aber als Miss Sophia danach weiterredete, gab es mindestens eine Schülerin in dem Klassenzimmer, die an ihren Lippen hing und jedes Wort, das sie sagte, gierig aufsaugte. Vielleicht lag es daran, dass Luce von ihren Eltern nicht religiös erzogen worden war, was sie wahrscheinlich von allen Schülern hier im Raum unterschied, vielleicht hatte sie ja auch nur Mitleid mit Miss Sophia, jedenfalls hätte sie sich jetzt am liebsten umgedreht und »Pscht!« gemacht.
    Sie war gereizt. Müde. Hungrig. Statt wie der Rest der Schule in die Cafeteria zum Abendessen zu strömen, mussten die zwanzig Schülerinnen und Schüler, die sich für Miss Sophias Religionskurs eingeschrieben hatten und den »freiwilligen Extraunterricht« - eine absolute Fehlbezeichnung, wie Penn fand - besuchten, im Klassenzimmer bleiben, wohin ihnen das Essen gebracht worden war, um Zeit zu sparen.
    Die Mahlzeit - weder Mittagessen noch Abendessen, nur so ein Zwischending, um sich den Magen vollzustopfen - war für Luce ein Horrortrip gewesen. Schon an den normalen Tagen war es für sie schwer genug, auf dem fleischlastigen Speiseplan etwas halbwegs Essbares zu finden, aber heute hatte Randy nur einen Wagen voller trübseliger Sandwiches hereingeschoben, mitsamt ein paar Krügen lauwarmen Leitungswassers.
    Die Sandwiches waren alle mit undefinierbarem Aufschnitt,
Mayo und Käse belegt, und Luce hatte neidisch zugeguckt, wie Penns Zähne sich im Halbkreis durch ein weiches Toastbrot nach dem anderen arbeiteten. Luce war gerade dabei gewesen, ein Sandwich auseinanderzunehmen, um die Wurst herauszupulen, als plötzlich Cam neben ihr stand. Er streckte ihr die Handfläche hin, auf der ein paar kleine frische Feigen lagen. Sie schimmerten tief violett, wie Edelsteine.
    »Was ist das denn?«,

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