Engelsnacht
fragte sie lächelnd.
»Man lebt doch nicht vom Brot allein, oder?«, erwiderte er.
»Stopp, Darling, das ist nichts für dich.« Gabbe drängte sich zwischen Luce und Cam, pickte die Feigen aus der Hand der vollkommen überrumpelten Luce und warf sie in den Abfalleimer. Stattdessen schüttete sie ihr ein Dutzend bunte M&Ms aus dem Automaten in die offene Hand. Was bildete die sich eigentlich ein? Luce hätte Gabbe am liebsten das regenbogenfarbige Stirnband heruntergerissen und auch in den Abfall befördert.
»Sie hat recht, Luce.« Arriane war aufgetaucht und schaute Cam finster an. »Wer weiß, womit er die Feigen gedopt hat!«
Luce hatte wie über einen schlechten Witz gelacht, aber als keiner mitlachte, machte sie den Mund zu und ließ die M&Ms in ihre Hosentasche gleiten. Da rief Miss Sophia auch schon, dass sie auf ihre Sitze zurück sollten.
Stunden später, zumindest fühlte es sich so an, saßen sie alle immer noch im Klassenzimmer, und Miss Sophia war in der Zwischenzeit von der Weltendämmerung nicht weiter als bis zum Ringen zwischen den Mächten des Himmels und
der Hölle gekommen. Sie waren noch nicht einmal bei Adam und Eva. Wie um dagegen zu protestieren, kam von Luces Magen ein lautes Knurren.
»Und wisst ihr alle, wie der böse Engel hieß, der sich gegen Gott stellte?«, fragte Miss Sophia, als würde sie Kindern aus einem Bilderbuch vorlesen. Wenn die Klasse darauf im Chor brav »Ja, Miss Sophia« gerufen hätte - Luce hätte das inzwischen auch nicht mehr gewundert.
»Kann mir das einer sagen?«, fragte Miss Sophia.
»Roland!«, flüsterte Arriane kichernd.
»Richtig!«, antwortete Miss Sophia und nickte. Sie musste eine Heilige sein, dass sie das alles ertrug. »Wir nennen ihn heute Satan oder Teufel, aber er ist über die Jahrhunderte hinweg in vielen Verkleidungen aufgetreten - als Mephistopheles, Belial, und manchen ist er auch als Luzifer erschienen.«
Molly, die vor Luce saß und bereits die ganze Zeit mit ihrer Stuhllehne gegen Luces Tisch gestoßen war, um sie in den Wahnsinn zu treiben, ließ prompt ein Papierchen über ihre Schulter auf die Tischplatte fallen.
Luce … Luzifer … gibt es da vielleicht einen Zusammenhang?
Das Ganze hatte sie in fetten schwarzen Buchstaben hingeschmiert, die wütend und irgendwie besessen wirkten. Luce glaubte zu sehen, wie sich Mollys Gesicht zu einem höhnischen Grinsen verzog. Da wurde sie so zornig, dass sie anfing, auf die Rückseite des Zettels eine Antwort zu kritzeln. Dass sie nach Lucinda Williams benannt war, der größten lebenden amerikanischen Sängerin und Songwriterin, auf deren fast völlig verregnetem Konzert sich ihre Eltern einst kennengelernt hatten. Dass ihre Mutter damals über einen weggeworfenen Plastikbecher gestolpert, im Schlamm ausgerutscht
und ihrem Vater in die Arme gefallen war, und dass sie sich jetzt schon zwanzig Jahre liebten. Ihr Name stand für Romantik, und was hatte die großmäulige Molly zu diesem Thema beizutragen? Und überhaupt, wenn jemand an dieser Schule irgendwelche Ähnlichkeit mit dem Teufel hatte, dann war es nicht die Empfängerin, sondern die Absenderin dieses Briefs.
Ihre Augen bohrten sich in Mollys Hinterkopf mit dem seit Kurzem scharlachrot gefärbten Pixie-Cut. Luce wollte gerade den gefalteten Zettel vorwerfen, egal welche Folgen das bei Mollys jähzornigem Temperament für sie haben würde, als ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne zu Miss Sophia und ihrem Schattenspiel gelenkt wurde.
Miss Sophia hatte jetzt beide Arme hoch über den Kopf gehoben, die Handflächen nach oben, als wollte sie eine Gabe empfangen. Dann senkte sie sie langsam wieder und die Schatten ihrer Finger an der Wand sahen wundersamerweise wie zappelnde Arme und Beine aus, wie ein Mensch, der von einer Brücke oder aus einem Fenster gesprungen war. Der Anblick war so bizarr und düster und wirkte gleichzeitig so echt, dass Luce es kaum ertrug. Sie konnte die Augen nicht abwenden.
»Neun Tage und neun Nächte lang stürzten Satan und seine Engel in die Tiefe«, sagte Miss Sophia. »Immer tiefer und tiefer, immer ferner vom Himmel.«
Ihre Worte riefen in Luce etwas wach, eine Erinnerung regte sich in ihr. Sie schaute zwei Reihen weiter zu Daniel und ihre Blicke kreuzten sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich sein Gesicht wieder über das Heft beugte. Aber dieser kurze Blick aus seinen Augen hatte genügt. Plötzlich war alles wieder da, sie sah den Traum vor sich, den sie vergangene Nacht geträumt
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