Engelsnacht
zu ängstlich, um zu handeln. Das ist noch viel schlimmer.« Sie hustete verächtlich »Lucinda!«, räusperte sich noch einmal, fügte hinzu: »Aber das ist nur meine Meinung« und setzte sich hin.
»Danke, Molly«, sagte Miss Sophia vorsichtig. »Das war für uns alle ein wichtiger, erhellender Beitrag.«
Luce hatte nicht den Eindruck, dass ihr bei Mollys Wortschwall ein Licht aufgegangen war. Ganz im Gegenteil. Sie hatte mittendrin abgeschaltet, weil sie plötzlich ein flaues, unheimliches Gefühl in der Magengegend hatte.
Die Schatten. Sie spürte sie schon, bevor sie sie sah. Wie
brodelnder Asphalt drangen sie von unten herauf. Ein schwarzer Fangarm wand sich um ihr Handgelenk. Luce blickte mit Entsetzen an ihrem Körper hinab. Der Tentakel versuchte, sich in ihre Hosentasche zu schlängeln! Wo sie Arrianes Papierflieger hingesteckt hatte. Sie hatte den Brief noch nicht einmal gelesen! Luce steckte die Faust tief in die Hosentasche und nahm Zuflucht zu zwei Fingern und all ihrer Willenskraft. Dann zwickte sie den schlängelnden Fangarm, so stark sie konnte.
Und etwas Erstaunliches geschah: Der Schatten wich zurück, winselnd wie ein getretener Hund. Es war das erste Mal, dass Luce zu einer solchen Tat fähig gewesen war.
Als sie ans Ende der Tischreihe schaute, bemerkte sie, dass Arriane den Kopf schräg gelegt hatte und sie mit offenem Mund anstarrte. Ihre Blicke trafen sich.
Der Brief - sie wartete wahrscheinlich immer noch darauf, dass Luce den Brief las.
Miss Sophia knipste den Scheinwerfer aus. »Genug für heute. Für meine Arthritis sind solche Vorführungen die reinste Hölle.« Sie kicherte so lange, bis die Schüler, deren Widerstandskraft erschöpft war, ergeben mitkicherten. »Wenn ihr die sieben Aufsätze noch mal lest, die ich euch zu Miltons Das verlorene Paradies aufgegeben hatte, seid ihr für die Prüfung morgen bestens vorbereitet.«
Während die anderen Schüler hastig nach ihren Taschen griffen und aus dem Raum drängten, faltete Luce den Zettel von Arriane auseinander:
Sag bloß nicht, dass er bei dir die lahme ›Verbrannte-Erde‹-Nummer abgezogen hat.
Aua, das tat weh. Sie musste unbedingt mit Arriane reden,
um herauszufinden, was sie alles über Daniel wusste. Aber zuerst …
Er stand vor ihr. Seine silberne Gürtelschnalle funkelte direkt vor ihren Augen. Luce blinzelte. Sie holte tief Luft und blickte hoch.
Daniel schaute sie aus seinen grau-violett gesprenkelten Augen ruhig und wach an. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit er sie am See auf dem Felsen zurückgelassen hatte. Er wirkte erholt. Als hätte der Tag, den er ohne sie verbracht hatte, ihn verjüngt.
Luce merkte, dass Arrianes Briefchen immer noch offen auf dem Pult lag. Sie schluckte nervös und steckte es schnell ein.
»Ich wollte mich entschuldigen, dass ich am Samstag so schnell verschwunden bin«, brachte Daniel merkwürdig förmlich hervor. Luce wusste nicht, ob sie diese Entschuldigung annehmen sollte. Aber er ließ ihr gar keine Zeit zu einer Antwort. »Du bist hoffentlich gut und sicher wieder ans Ufer zurückgekommen?«
Sie versuchte ein kleines Lächeln. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie Daniel von ihrem seltsamen Traum erzählen sollte, doch dann fiel ihr zum Glück noch ein, wie verlegen ihn das wahrscheinlich gemacht hätte.
»Wie fandest du heute den Unterricht bei Miss Sophia?« Daniel wirkte fremd und steif, als hätten sie noch nie miteinander gesprochen. Aber vielleicht machte er ja nur Spaß.
»Es war eine einzige Qual«, antwortete Luce. Sie hatte es noch nie gemocht, wenn schlaue Mädchen so taten, als würde sie irgendwas anöden, bloß weil sie merkten, dass ein Junge das hören wollte. Aber es stimmte einfach: Der Unterricht war eine Qual gewesen.
»Gut so«, sagte Daniel. Ihre Antwort schien ihn zu freuen.
»Dann fandst du es auch so schrecklich?«
»Nein«, antwortete er ebenso wortkarg wie rätselhaft, und Luce wünschte jetzt, sie hätte gelogen, um interessierter zu klingen, als sie tatsächlich war.
»Dann … dann hat es dir gefallen?«, fragte sie zurück, bloß um irgendetwas zu sagen, bloß um ihn in ihrer Nähe zu halten, ihn zum Reden zu bringen, damit er nicht gleich wieder fortging. »Und was … was hat dir daran gefallen?«
»Vielleicht ist ›gefallen‹ nicht das richtige Wort.« Er schwieg und nach einer langen Pause sagte er: »Es liegt in meiner Familie … sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Ob ich will oder nicht, spüre ich da eine
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