Engelsnacht
sie an der Tür. Ihre Füße setzten wieder hart auf dem Boden auf, und sie warf sich gegen den Nothebel.
Drückte. Keuchte. Spuckte. Würgte.
Wieder ertönte ein Alarm. Aber ganz weit weg, wie aus weiter Ferne.
Der Wind blies ihr ins Gesicht. Sie waren draußen! Sie standen auf einem schmalen Treppenabsatz, von dem Stufen hinunter auf das Schulgelände führten. Obwohl sie noch benommen war und ihr Kopf sich anfühlte, als wäre er voller schwarzer Wolken und Rauch, glaubte Luce, ganz in der Nähe Stimmen zu vernehmen.
Sie drehte sich kurz noch einmal um, weil sie begreifen
wollte, was gerade mit ihr und Todd geschehen war. Wie hatten sie es durch die dicken, schwarzen, undurchdringlichen Schatten schaffen können? Und was war das gewesen, was sie gerettet hatte? Denn es war verschwunden, es war jetzt nicht mehr zu spüren. Luce fühlte nur noch eine Leere und Abwesenheit.
Sie wollte beinahe zurück und danach suchen.
Doch im Korridor war es finster. Ihre Augen tränten immer noch und sie konnte die wirbelnden Schatten nicht erkennen. Vielleicht waren sie verschwunden. Vielleicht.
Dann war da plötzlich eine Lichterscheinung, zuerst dachte sie an einen Baum mit dicken Ästen, nein, es war eher ein Körper mit langen Gliedmaßen. Eine pulsierende, fast violette Lichtsäule, die über ihnen am Nachthimmel hing. Seltsamerweise musste Luce dabei an Daniel denken. Was war mit ihr los? Sie atmete tief durch und rieb sich die Augen, das mussten die Tränen und der Rauch sein. Sie blinzelte. Das Licht war immer noch da. Sie glaubte zu spüren, wie es nach ihr rief, sie zu beruhigen suchte, ein süßes Wiegenlied mitten im Kriegsgetümmel.
Und so kam es, dass sie den Schatten nicht sah.
Er stieß mit aller Wucht gegen Todd und sie. So stark, dass sie Todds Handgelenk losließ. Luce wurde durch die Luft geschleudert und landete am Fuß der Treppe. Ein Schrei entfuhr ihr.
In ihrem Kopf pochte es unerträglich. Sie hatte noch nie einen so starken, brennenden Schmerz empfunden. Sie schrie in die Nacht, in den Kampf zwischen Licht und Schatten über ihr am Himmel.
Dann schwanden ihr die Sinne, was sie sah, ging über ihre Kräfte, sie streckte die Waffen und schloss die Augen.
Elf
Unsanftes Erwachen
»Fürchtest du dich?«, fragte Daniel. Mit schräg geneigtem Kopf sah er sie an, seine blonden Haare waren leicht zerzaust vom Wind, der sie beide sanft umwehte. Er hielt sie in den Armen, seine Hände lagen fest und schwer auf ihrer Hüfte, aber zugleich war seine Umarmung weich und sanft, als würde ein seidenes Band sie umschlingen. Sie blickte zu ihm auf, ihre Finger hatte sie hinter seinem Hals verschränkt.
Fürchtete sie sich? Nein. Sie war ja bei Daniel. Endlich. In seinen Armen. Dennoch, seine Frage beschäftigte sie: Hätte sie sich denn fürchten sollen? Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht einmal, wo sie war.
Sie spürte den Regen in der Luft. Aber Daniel und sie waren trocken. Sie trug ein langes, fließendes weißes Gewand, das ihre Knöchel umspielte. Vom Tag war nur noch ein schmaler Lichtstreifen am Horizont übrig. Luce fühlte ein schmerzhaftes Bedauern in sich aufsteigen, dass die Sonne bereits am Untergehen war. Als hätte sie sie aufhalten können. Die letzten Sonnenstrahlen schimmerten immer so golden und kostbar. Ein Licht wie Honig, dachte sie.
»Wirst du bei mir bleiben?«, fragte sie. Es war nur ein Flüstern, kaum der Hauch eines Lautes, beinahe übertönt von einem noch fernen Donnergrollen. Eine Windböe fegte jäh daher und wehte Luce die Haare ins Gesicht. Daniel
umarmte sie noch fester, bis sie seinen Atem spürte, seine Haut auf ihrer Haut. Sie schmiegte sich an ihn.
»Für immer und ewig«, flüsterte er. Der zärtliche Klang seiner Stimme erfüllte sie.
Links auf seiner Stirn bemerkte sie ein paar geronnene Blutstropfen, irgendetwas Spitzes musste ihn da gekratzt haben. Aber als Daniel ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm und sie noch näher zu sicher heranzog, vergaß sie, ihn danach zu fragen. Sie bog den Kopf leicht zurück und spürte, wie ihr ganzer Körper sich ihm darbot, weich, träge und erwartungsvoll.
Endlich, endlich senkten sich seine Lippen auf ihre herab, mit einer Leidenschaft, die ihr den Atem raubte. Er küsste sie, als wäre sie ein lange verloren geglaubter Teil von ihm, den er nun endlich wiedergefunden hatte.
Dann begann der Regen zu fallen. Das Wasser lief über ihre Haare, ihre Gesichter, war überall, als würden sie es zugleich atmen und trinken.
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