Engelsnacht
können - nur dass in Luce für solche Empfindungen kein Platz war, weil die Schatten sie ganz und gar beherrschten. Wenn es ihr doch nur gelänge, sie aus ihrem Kopf zu bekommen, das alles von sich abzuschütteln, ohne zugleich auch Penn zu vertreiben.
Das luftige graue Schattengespinst machte Luce ängstlich und unruhig. Nicht dass die Gleichförmigkeit der Schatten,
die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte, besonders beruhigend gewesen wäre, aber die jüngsten Variationen versetzten sie in Schrecken. Bedeutete das, dass immer mehr Schatten den Weg zu ihr fanden? Oder konnte sie sie allmählich nur besser auseinanderhalten? Sie musste an den Moment während Miss Sophias Unterricht denken, als sich ein Schatten in ihre Hosentasche schlängeln wollte - und es ihr ebenfalls gelungen war, ihn zu vertreiben. Sie hatte nicht lange nachgedacht, bevor sie ihn kräftig zwickte, und niemals hätte sie geglaubt, dass ihr Daumen und Zeigefinger es mit einem Schatten aufnehmen konnten, aber so war es gewesen, zumindest für einige Zeit. Misstrauisch musterte sie die Regale ringsum.
Luce fragte sich, ob sie damit so etwas wie einen Präzedenzfall im Umgang mit den Schatten geschaffen hatte. Obwohl man es natürlich kaum »Umgang« nennen konnte, was Luce mit dem Schatten über Penns Kopf angestellt hatte - sogar Luce war klar, dass das ein hemmungsloser Euphemismus war. Ihr Magen verkrampfte sich und ihr wurde eiskalt, als sie sich klarmachte, was sie an diesem Tag begonnen hatte. Sie hatte begonnen, den Kampf mit den Schatten aufzunehmen.
»Das ist aber komisch«, sagte in diesem Augenblick Penn, die vor dem unteren Regalbrett kauerte. »Hier sollte es stehen, zwischen dem Lexikon der Engel und der berühmt-berüchtigten Feuer-und-Schwefel-Schwarte von Billy Graham.« Sie blickte zu Luce hoch. »Aber es ist nicht mehr da.«
»Aber du hast doch gesagt…«
»Ja. Im Computer stand auch, dass es verfügbar ist, als ich heute Nachmittag nachgeguckt hab. Wir können das jetzt nicht mehr überprüfen, dafür ist es schon zu spät.«
»Vielleicht sollten wir mal Todd fragen«, schlug Luce vor.
»Womöglich benutzt er das Wächteramt der Engel ja als Tarnung für seine Playboy-Lektüre.«
»Würg.« Penn gab ihr einen Klaps auf den Hintern.
Luce spürte, dass sie diesen blöden Witz nur gemacht hatte, um ihre Enttäuschung zu überspielen. Es war einfach zu frustrierend. Was auch immer sie unternahm, um über Daniel etwas herauszufinden - sie hatte das Gefühl, mit dem Kopf gegen eine Wand zu rennen. Sie hatte keine Ahnung, was in dem Buch seines Urururahnen womöglich zu lesen gewesen wäre. Aber es hätte irgendeine Verbindung zu Daniel gegeben. Was immerhin besser als gar nichts gewesen wäre.
»Bleib hier.« Penn stand auf. »Ich gehe mal zu Miss Sophia und frage sie, ob jemand das heute ausgeliehen hat.«
Luce blickte ihr nach, wie sie den schmalen, langen Gang zum Schalter zurücktrottete. Sie musste grinsen, als Penn ihre Schritte beschleunigte, um möglichst schnell an Todd vorbeizukommen.
Luce musterte die Bücher in dem Regal, vor dem sie stand. Sie ging im Kopf alle Schüler aus der Religionsklasse der Sword & Cross durch - und auch alle anderen, die sie kannte -, aber ihr wollte einfach niemand einfallen, der dieses alte Buch ausgeliehen haben könnte. Vielleicht hatte ja Miss Sophia selbst es zur Vorbereitung benutzt, dann lag es möglicherweise bei ihr auf dem Tisch. Wie sich das wohl für Daniel angefühlt haben musste, zwischen allen anderen in der Klasse dazusitzen, während Miss Sophia über Themen dozierte, über die bei ihm zu Hause wahrscheinlich tagtäglich beim Mittagessen geredet worden war. Luce hätte gerne gewusst, was für eine Kindheit er gehabt hatte. Was war seinen Eltern zugestoßen? War er im Waisenhaus religiös erzogen worden? Sie hätte gerne gewusst, ob Daniel das Buch seines Vorfahren jemals gelesen und es ihn beschäftigt hatte.
Ob er vielleicht selbst gerne Schriftsteller wäre. Sie hätte gerne gewusst, was er jetzt gerade auf Gabbes Party trieb und wann er Geburtstag hatte und welche Schuhgröße er trug und ob er eine einzige Sekunde seines Lebens damit vergeudet hatte, an sie zu denken.
Luce schüttelte den Kopf, um all diese Gedanken loszuwerden. Das führte sie nirgendwohin, außer zu Selbstmitleid. Sie zog das nächstbeste Buch aus dem Regal - das todlangweilig wirkende und in braunes Leinen gebundene Lexikon der Engel - und beschloss darin zu lesen, bis Penn wieder da
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