Engelsnacht
wäre der Tod ganz normal. Sie schienen davon nicht so mitgenommen zu sein wie Luce. Aber sie konnten nicht wissen, was Luce wusste. Wie schrecklich seine letzten Augenblicke gewesen waren. Sie konnten nicht wissen, warum es ihr jetzt so schlecht ging. Sie klopfte einladend aufs Fußende ihres Betts und reichte Penn den Rest ihres eisgekühlten Kokosnuss-Drinks.
»Wir sind hinten zum Notausgang raus und dann -« Luce brachte nicht mehr über die Lippen. »Wie ist es dir und Miss Sophia ergangen?«
Penn warf Arriane und Gabbe einen misstrauischen Blick zu, aber keine von beiden schien sie angiften zu wollen. Da setzte sich Penn hin.
»Ich bin zu ihr gegangen, na du weißt schon, um sie was zu fragen.« Sie blickte wieder zu den beiden anderen Mädchen und zwinkerte Luce dann zu. »Sie konnte mir da keine Antwort geben, stattdessen wollte sie mir ein anderes Buch zeigen.«
Luce hatte ganz vergessen, weshalb Penn und sie gestern Abend in der Bibliothek gewesen waren. Das schien so weit weg und auch viel zu unwichtig.
»Wir machten ein paar Schritte von Miss Sophias Arbeitsplatz weg«, erzählte Penn, »da bemerkte ich aus dem Augenwinkel plötzlich ein gleißendes Licht, ich hab irgendwo mal gelesen, dass es so was wie Selbstentzündung gibt, aber das war …«
Die drei anderen Mädchen starrten sie an. Diese Geschichte war der Hammer.
»Irgendjemand muss doch das Feuer entzündet haben«, sagte Luce, die Miss Sophias runden Auskunftsschalter mit den Papierstapeln genau vor Augen hatte. »War inzwischen noch jemand in die Bibliothek gekommen?«
Penn schüttelte den Kopf. »Da war niemand. Miss Sophia sagt, dass es wahrscheinlich ein Kurzschluss in der Lampe auf ihrem Tisch war. Was auch immer die Ursache gewesen sein mag, die Flammen schlugen mächtig hoch. Alle Papiere auf dem Tisch waren in Null Komma nichts verbrannt, einfach so.« Sie schnippte mit den Fingern.
»Aber ihr selbst geht es gut?«, fragte Luce.
»Sie ist ziemlich verzweifelt, aber unversehrt«, sagte Penn. »Die Sprinkleranlage ist dann ja angegangen, und ich denke, das hat zusätzlich zum Feuer einen ziemlichen Schaden angerichtet. Alle Papiere von Miss Sophia dürften verloren sein. Als ich ihr das mit Todd erzählt habe, hat sie zuerst gar nicht ganz begriffen, was ich meinte, so benommen war sie noch.«
»Vielleicht sind wir alle noch zu benommen, um es zu begreifen«, sagte Luce. Diesmal nickten Gabbe und Arriane rechts und links von ihr. »W … wissen denn Todds Eltern schon davon?« Luce fragte sich, wie um Himmels willen sie ihren Eltern erklären sollte, was passiert war.
Sie sah sie vor sich, wie sie in der Eingangshalle saßen und alle möglichen Formulare ausfüllten. Wollte sie sie überhaupt sehen? Würden sie Todds und Trevors Tod miteinander in Verbindung bringen? Würden sie Luce dafür verantwortlich machen?
»Ich hab gehört, wie Randy mit Todds Eltern telefoniert hat«, sagte Penn. »Ich glaube, sie wollen die Schule verklagen. Sein Leichnam wird heute noch zu ihnen nach Florida überführt.«
Und das war’s? Luce schluckte.
»Die Sword & Cross hält am Donnerstag eine Trauerfeier für ihn ab«, sagte Gabbe. »Daniel und ich helfen dabei, das zu organisieren.«
»Daniel?«, fragte Luce hastig. Sie blickte zu Gabbe. Selbst in ihrem Zustand der Trauer konnte sie nicht anders, vor ihrem inneren Auge entstand wieder das Bild, das sie sich bei ihrem ersten Kennenlernen von Gabbe gemacht hatte: eine blonde Verführerin mit pinken Lippen.
»Er hat euch beide letzte Nacht gefunden«, sagte Gabbe. »Er hat dich von der Bibliothek bis in Randys Büro getragen.«
Daniel hatte sie getragen? Er … er hatte seine Arme um sie gelegt? Wie … wie in ihrem Traum? Plötzlich war der Traum wieder da und die Sehnsucht danach, zu fliegen - nein, zu schweben -, überwältigte sie. Luce fühlte sich so unglücklich ans Bett gefesselt. Sie wollte wieder den Himmel spüren, den Regen, seinen Mund, der mit ihrem verschmolz. Sie errötete, ihre Wangen brannten, erst vor Begehren, dann vor Scham, weil sich all das niemals in ihrem wirklichen Leben ereignen würde und sie es sich dennoch so heftig wünschte. Nicht nur die prächtigen, in allen Farben schillernden Flügel waren ein Traum. Daniel, wie er leibte und lebte, trug sie auf seinen Armen in Randys Büro. Aber nie würde er sie einfach so in die Arme nehmen, nie würde er sie küssen.
»Ähm, Luce, alles in Ordnung mit dir?«, fragte Penn. Sie fächelte ihren geröteten Wangen mit
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