Engelspakt: Thriller (German Edition)
die an der Sixtinischen Kapelle und den Grotten vorbei zur Vatikanischen Bibliothek und den Archiven führten. Vor jeder dieser kolossalen Pforten standen Soldaten der Schweizergarde.
Sie hatte den Altar über dem Petrus-Grab fast erreicht, als sie in ihrer unmittelbaren Nähe eine Aura des Zorns, der Traurigkeit und Verletztheit spürte, deren Intensität sie sofort aufhorchen und sich umdrehen ließ. In der Nähe des Altars stand ein Mann mit kurzem, wirrem Haar in ausgebeulten Tweedhosen und einer abgetragenen Barbourjacke und blickte zur Kuppel hoch. Er sah aus, als lese er die in zwei Meter hohen Lettern verfasste Inschrift, jene Worte, die Jesus einst an Simon Petrus gerichtet hatte: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.«
Normalerweise waren Catherines mentale Schilde durch die Ausbildung im KIMH so stark, dass kaum etwas aus der Geistessphäre eines anderen Menschen zu ihr durchdrang. Diese über Jahrzehnte hinweg antrainierte Fähigkeit bewahrte sie zum einen davor, den Verstand zu verlieren, und schützte zum anderen die Privatsphäre der sie umgebenden Menschen. Dank ihrer Ausbildung waren die Emotions- und Gedankenströme um sie herum kaum mehr als ein weißes Rauschen. In gewisser Weise war Catherine so zu ihrem eigenen Störsender geworden. Doch diese Fertigkeit hatte auch einen gefährlichen Haken. Sollte sie ihre Schilde aus irgendeinem Grund einmal zu schnell senken müssen oder gänzlich die Kontrolle über ihre Gabe verlieren, konnte dies ihren Geist erheblich verletzen, wenn nicht gar zerstören.
Der schneidende Schmerz und die schwelende Trauer, die in diesem Moment von dem fremden Mann ausgingen, hatten das weiße Rauschen nun so unversehens durchdrungen, dass Catherine sich unwillkürlich fragte, ob er hierhergekommen war, um sich das Leben zu nehmen. Es wäre nicht der erste Selbstmord im Petersdom. Die innere Galerie der Kuppel war zwar mit einer nahezu unüberwindbaren Sicherheitsabsperrung versehen worden, doch wen konnte das schon aufhalten, wenn jemand durch einen Sturz von der Galerie seinem Leben ein Ende bereiten wollte?
Sie fasste sich ein Herz und ging auf den Mann zu. »Verzeihen Sie, kann ich Ihnen vielleicht helfen? Geht es Ihnen nicht gut?«
Der Mann blickte sie an, blinzelte überrascht und stand wie versteinert da. Schließlich brachte er doch noch ein paar Sätze heraus. »Es geht mir gut, danke, Signorina. Machen Sie sich bitte keine Sorgen.«
Catherine registrierte, dass der Mann recht gut italienisch sprach, mit britischem Akzent. Seine Stimme klang traurig, aber aufrichtig. Dennoch ließ sie nicht so ohne weiteres von ihm ab. Sie sah ihn an und versuchte mehr über ihn zu erfahren.
»Sind Sie ganz sicher?«
Er nickte und setzte ein unbeholfenes Lächeln auf. »Meine Frau ist vor ein paar Jahren verstorben. Sie hat diesen Ort sehr gemocht. Deshalb bin ich heute hier. Um ihrer zu gedenken.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Ich habe noch einen Termin.« Mit einem unverbindlichen Lächeln zog der Mann sich zurück.
Catherines Blick folgte ihm. Während des kurzen Gesprächs hatte sie wahrgenommen, dass der Mann keineswegs suizidgefährdet war. Er litt und trauerte tief, aber da war auch ein unbändiger Lebenswille, ein Ziel, das ihn nicht aufgeben ließ. Wenn da bloß nicht diese befremdliche Dunkelheit gewesen wäre. Doch was hätte sie tun sollen? Den Mann wegen seiner beklemmenden Aura durch die vatikanische Polizei in Schutzhaft nehmen lassen? Man hätte sie augenblicklich für verrückt erklärt.
Sie verharrte noch einen Augenblick und beobachtete, wie der Fremde Richtung Vorhalle verschwand.
* * *
Ohne sich umzudrehen, wusste Scrimgeour, dass die hilfsbereite junge Dame ihm noch einen Moment lang nachsah, bevor sie an den Wächtern vorbei durch eine der Seitentüren trat. Vermutlich führten sie zur Sixtinischen Kapelle und den Archiven. Es war ihm ein Rätsel, wieso die junge Frau sich überhaupt zu ihm umgedreht hatte. Sah man seiner Miene etwa an, wie er sich fühlte? Er musste vorsichtiger sein.
Die junge Frau war äußerst attraktiv gewesen. Sie hatte das schulterlange blonde Haar zu einem ordentlichen, aber nicht zu strengen Pferdeschwanz zusammengebunden. Aus dem schlichten, dunklen Kostüm und ihrem leichten amerikanischen Akzent hatte er geschlossen, dass sie einem dieser modernen US-amerikanischen Orden
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