Engelsrache: Thriller
hinweisen. Ich trat an das Rednerpult, hob es ein wenig an und stellte es ungefähr einen Meter nach rechts, um ungehindert zu den Geschworenen sprechen zu können. Dann richtete ich den Blick zunächst auf die Geschworenen und anschließend in den Zuschauerraum. Tester junior war jetzt ebenfalls da und saß direkt links von mir in der ersten Reihe. Mir fiel auf, dass er seit meinem Besuch vor einigen Monaten mindestens zehn Kilo zugenommen hatte. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert und sah müde und abgespannt aus. Der starre Blick, mit dem er mich ansah, irritierte mich anfangs ein wenig, allerdings nur wenige Sekunden.
»Wenn Sie alles glauben, was Mr Martin Ihnen soeben erzählt hat, ist diese Verhandlung eigentlich überflüssig«, fing ich an. Ich sah die Geschworenen an und lächelte. »Wenn sich alles tatsächlich so zugetragen hätte, wie der Staatsanwalt es hier dargestellt hat, könnten wir Miss Christian augenblicklich in die Todeszelle führen lassen und uns den ganzen Aufwand hier ersparen.«
Ich sah den Geschworenen direkt ins Gesicht und versuchte herauszufinden, ob Martin sie mit seinem Vortrag bereits auf eine bestimmte Meinung hatte einschwören können. Doch keiner von ihnen wich meinem Blick aus, und ich hatte den Eindruck, dass sie durchaus bereit waren, meine Argumente zu hören.
»Nur dass Mr Martins Ausführungen nicht die Wahrheit wiedergeben. Vielmehr hat er Ihnen lediglich eine bestimmte Interpretation der vorliegenden Indizien und Zeugenaussagen vorgetragen. Und wie Sie wissen, hat jede Geschichte ihre zwei Seiten. Aber der Reihe nach. Die junge Dame dort drüben heißt übrigens nicht ›die Angeklagte‹.«
Ich ging zum Tisch der Verteidigung, stellte mich direkt hinter Angel und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Sondern Angel Christian. Sie wird später noch in den Zeugenstand treten und etwa das Folgende aussagen: Am Abend des elften April dieses Jahres erschien Reverend John Paul Tester in dem Club, in dem Angel Christian zu diesem Zeitpunkt seit kaum einem Monat als Bedienung tätig war. Das fragliche Etablissement ist ein Striptease- oder Herrenclub, wie man so sagt. Diesen Club suchen Männer auf, um sich junge Frauen anzuschauen, die dort auf mehreren Bühnen tanzen und sich entkleiden. Einen Mann Gottes würde man dort eigentlich nicht unbedingt vermuten. Noch weniger aber würde man wohl erwarten, dass ein solcher Gottesmann dort die Rechnung mit dem Spendengeld begleicht, das er kurz zuvor in der Church of the Light of Jesus von den Gläubigen entgegengenommen hatte. Keine Stunde vor seinem Besuch in dem Club hatte der Reverend nämlich in dieser Kirche eine leidenschaftliche Predigt gegen die Unzucht gehalten.«
Diane Frye hatte einen Tonbandmitschnitt der Predigt beschafft, die Tester an jenem Abend gehalten hatte. Zu meinem Bedauern hatte der Richter den Mitschnitt nicht als Beweismittel zugelassen. Im Grunde genommen durfte ich die Tonbandaufzeichnung nicht mal erwähnen, wusste aber, dass der Richter mich nicht behelligen würde, sofern Frankie keinen Einspruch erhob. Und sollte der Staatsanwalt Einspruch erheben, unterstrich er damit sogar noch die Bedeutung der Predigt. Mochte es auch moralisch nicht ganz unbedenklich sein, die Predigt zu erwähnen, doch hier ging es schließlich um Angels Leben. Frankie erhob keinen Einspruch.
»Miss Christian war in dem Club weder als Tänzerin noch als Stripperin tätig, geschweige denn als Prostituierte. Sie hat dort nur als Bedienung gearbeitet. Sie ist erst seit Februar hier in der Gegend, und zwar deshalb, weil sie es daheim in Oklahoma wegen der schrecklichen Verhältnisse in ihrer Adoptivfamilie nicht mehr ausgehalten hat. Sie wollte ursprünglich nach Florida fahren, doch dann hat sie in Dallas am Busbahnhof eine junge Dame kennengelernt, die ihr angeboten hat, ihr hier in der Gegend eine Arbeit zu beschaffen«, sagte ich.
»Miss Christian wird Ihnen ferner berichten, dass sie Reverend Tester am Abend des elften April sechs doppelte Scotch serviert hat, was zwölf normalen Drinks entspricht, und das innerhalb von nur zwei Stunden. Weiterhin werden Sie von ihr erfahren, dass Reverend Tester stark angetrunken war und sich ihr gegenüber aggressiv und aufdringlich verhalten hat. Sie wird Ihnen außerdem berichten, dass sich Reverend Tester einer ungehörigen Sprache bedient und sie unsittlich berührt hat. Sie hat sich an dem Abend wegen Mr Testers Betragen bei ihrer Chefin Ms Erlene Barlowe beschwert, die in
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